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»Die Ungehaltenen« von Deniz Utlu

»Ich scheiß auf das Beileidsgenicke«

Feature

In seinem Debütroman legt der Berliner Autor Deniz Utlu ein beeindruckendes Werk über das Leben und Sterben in der Migrationskultur vor. Poetisch geschrieben und voller Zwischentöne wirkt »Die Ungehaltenen« noch lange nach.

»Es hätte immer so weitergehen können. Aber ein Tages rief Mutter an, Vater habe Krebs. Fiona fand, dass es ein guter Zeitpunkt sei, mir zu sagen, dass sie mir in Zukunft keinen Schal um den Hals binden werde, wenn ich krank sein sollte, und verpisste sich, bevor es ernst wurde.« Als der junge Kreuzberger Jurastudent Elyas erfährt, dass sein Vater tödlich erkrankt ist, weiß er nicht, wohin mit sich. Seine Freundin lässt ihn im Stich und sein bester Freund Veit entpuppt sich als unsympathischer Frauenschläger.

 

Der Mutter bei der Pflege des Vaters zu helfen, übersteigt Elyas’ Kräfte. Lieber hält er sie auf Abstand und macht, was er kann, mit sich allein aus. Gern spricht er mit Onkel Cemo, dem alten Streikführer und Weggefährten seines Vaters. Ihn fragt Elyas, wie es damals in den Siebzigern war, als Cemo und sein Vater als Gastarbeiter der ersten Stunde und Exilierte nicht nur der Arbeit wegen nach Deutschland kamen.

 

Manchmal gibt Elyas sich auch eine Dosis Straßenethik bei seinem Freund Hekim, dem Kreuzberger Rapper, dessen raue Kunst dem sensiblen Jurastudenten gut tut, aber keinen Halt gibt. Erst die Ärztin Aylin, selbst zwischen ihrem Leben in Deutschland und der elterlichen Bindung an die Türkei verfangen, gibt Elyas die Kraft zurück, sein Leben selbst zu gestalten und wieder vorwärts zu schauen.

 

Biller will es wild

 

Deniz Utlus jüngst erschienener Debütroman »Die Ungehaltenen« erscheint zum richtigen Zeitpunkt: Gerade noch beschwerte sich Maxim Biller in einem vielbeachteten Artikel in der ZEIT über die »langweilige deutsche Gegenwartsliteratur« und griff besonders schreibende Migranten an, sie sollten doch gefälligst »wilde, ehrliche, bis ins Mark ethnische und authentische Texte« verfassen.

 

Da kommt Utlu und geht noch einen Schritt weiter: In einem dichten Gewebe aus poetischer Sprache, politischen Botschaften und einer ganz individuellen Auseinandersetzung mit Verlust und Liebe zeigt Utlu, wie die Migrationsgeschichte der Hauptcharaktere über mehrere Generationen hinweg als ewig präsenter roter Faden ihr ganzes Leben prägt, ohne dabei zum einzigen Charaktermerkmal zu verkommen.

 

Und weil Migranten längst mehr sind als die homogene Masse billiger und williger Arbeitskräfte, überkommt Utlus Hauptcharakter Elyas ungeschminkte Wut angesichts der bundesdeutschen Feierlichkeiten zum Anwerbeabkommen mit der Türkei. Bitter-ironisch kommentiert er diese als »Völkerschau«: »Jeden Augenblick müsste der Moderator auf die Bühne steigen und ankündigen, dass doch alle bitte ins Foyer gehen sollten, weil der Veranstaltungssaal zu einem Zoo umgebaut werden müsse.

 

Der Oberbürgermeister und sein Team dürfen dann die Türken in ihrer traditionellen Folklorekluft durch die Stäbe der Käfige mit Kartoffeln füttern.« Als Rebellion gegen die Reduzierung von Individuen auf Folklore und schwarze Haare vermeidet Utlu es im ganzen Buch, seinen Charakteren Herkunftslabels zu verpassen, als seien sie importierte Früchte. Indem er seinen Elyas andeuten lässt, dass neben Türkisch und Deutsch noch andere Sprachen in seiner Familie kursieren, impliziert der Autor geschickt, dass derartige Stempel schon angesichts der Vielfalt der Herkunftsländer zu kurz greifen.

 

Utlu lässt Elyas in einer fiktiven Dankesrede an die Festgemeinde schimpfen: »Ich scheiß auf den Bürgermeister. Ich scheiß aufs Anwerbeabkommen. [...] Ich scheiß auf den Motorroller für den einemillionundersten Gastarbeiter. Ich scheiß auf das Beileidsgenicke nach dem Tod meines Vaters. Ich scheiß auf all die Jahre, die ich damit verbracht habe, die Decke anzustarren. Ich verlange hier und jetzt diese Jahre zurück. Meine und die meines Vaters. Meine vier. Seine vierzig. Dies ist ein amtlicher Antrag, ich habe Jura studiert.« Biller mit seiner Forderung nach »Gastarbeiterkind-dreht-durch-Storys« dürfte hieran seine helle Freude haben.

 

Was bedeutet eigentlich der Tod?

 

Doch »Die Ungehaltenen« ist keine reine Anklageschrift an ein ignorantes rassistisches Deutschland. Utlu leistet Trauerarbeit, bemüht sich um ein möglichst präzises Bild eines Menschen, der am Verlust seines Vaters fast zerbricht. »Was niemand sah, war, wie ich meine Kontakte durchscrollte und niemanden anzurufen wusste. Was niemand sah, war, dass mich Jura einen Scheiß interessierte, ja, dass das der Grund war, weshalb ich lernen konnte. [...] Die Aufgabenstellung, die unlösbar war, bestand nur aus zwei Silben, nur aus einem einzigen Wort. Sie hieß: lebe«, fasst Elyas seine Gefühle nach dem Tod seines Vaters zusammen. 

 

Und weil der Vater ein Gastarbeiter war, kommt der Sohn nicht darum herum, sich mit der Bedeutung der Türkei für sich und sein Leben auseinanderzusetzen. Denn was heißt es eigentlich, in der Migrationskultur zu sterben? Was macht dies mit den Hinterbliebenen? Elyas und seine Leidensgenossin Aylin, von Utlu wohl nicht zufällig mit international geläufigem Namen benannt, haben sichtlich Mühe herauszufinden, was genau die Türkei und die elterliche Bindung dorthin für sie selbst bedeuten.

 

Wie selbstverständlich ist das vibrierende Kreuzberg mitsamt seiner vielen Bruchlinien das Zentrum ihres Lebens. Wenn auch Aylin und Elyas damit kämpfen, als Immigrantenkinder in Deutschland zu bestehen. Immer müssen sie etwas besser sein als der Durchschnitt, um als »normal« durchzugehen: »Ich hatte immer Angst vor einem falschen Zungenschlag gehabt. Einer, der mich verraten hätte. Dabei war Deutsch meine Muttersprache. Wehe dem, der sich beim Sprechen an einer Brezel verschluckt«, sagt Elyas an einer Stelle bezeichnend.

 

Doch die unvertraut-vertraute Heimat der Eltern erscheint erst nur wie ein Schatten im Hintergrund. So scheut Elyas davor zurück, die Mutter zur Beerdigung seines Vaters in die Türkei zu begleiten – zu weit erscheint womöglich der Bosporus, zu groß der Schritt in die Traditionen, die dort auf ihn warten. Auch Aylin, die für Elyas zur begehrenswerten Weggefährtin wird, sucht nach einem adäquaten Leben mit den pluralen Zugehörigkeiten. Während sie als Ärztin ihren Weg geht, vereinsamt der alternde Vater in Deutschland.

 

Von der Mutter, die zurück in die Türkei gegangen ist, hat Aylin sich vollends entfremdet. Erst eine Reise in die Türkei, zum Grab des Vaters, zum Dorf der Eltern, gibt beiden den nötigen Raum, sich mit der Türkei als Bestandteil des Eigenen zu arrangieren.

 

Ungehalten statt haltlos

 

Utlu gelingt es in seinem Roman auf erstaunliche Weise, die Komplexität der Realität in Worte zu fassen. Die Vielzahl existentieller Themen macht es manchmal schwer, den Text in einem Rutsch zu lesen. Oft wünscht sich die Leserin einen Diskussionspartner, um weiterzudebattieren, was Utlu im Text anreißt. Gentrifizierung und Stadtplanung, Naziaufmärsche, Kapitalismus versus Kommunismus, Rassismus, Kunst, Gewalt gegen Frauen, Alkohol und Drogen, Freundschaft, Liebe, Tod – alles nebeneinander, übereinander, ineinander verschränkt.

 

Ernst, komisch, surreal, unvermittelt, überraschend. So sind manche Verweise nur dem Eingeweihten zugänglich, wie zum Beispiel der Titel »Die Ungehaltenen« eine Erinnerung und Anlehnung ist an Oğuz Atays berühmten Romantitel »Tutunamayanlar«, der auf Deutsch mit »Die Haltlosen« übersetzt ist. Atays Roman gilt als bahnbrechendes Werk der türkischen Postmoderne und galt wegen seiner Komplexität noch bis vor Kurzem als unübersetzbar. Doch Utlus Helden sind nicht mehr nur haltlos, sie sind mehr: nämlich ungehalten. Damit macht Utlu sie zu aktiv handelnden Individuen, die ihr Schicksal, selbst in die Hände nehmen müssen. 

 

Manchmal sehnt sich der Leser angesichts der anhaltenden Dichte des Texts an der ein oder anderen Stelle nach Simplifizierung – nicht mit jedem Taxifahrer muss noch Marx diskutiert werden. Gleichzeitig garantiert die enorme Fülle an Inhalt, die Utlu mit wenigen Worten zu transportieren weiß, dass man sich noch lang mit seinem Text beschäftigen wird. Nicht zuletzt, weil er so schön ist.

 


Die Ungehaltenen

Deniz Utlu

Graf Verlag, 2014

240 Seiten, 18 Euro

Von: 
Sara Winter Sayilir

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