Lesezeit: 7 Minuten
»No time for Art« der ägyptischen Regisseurin Laila Soliman

Wir weigern uns zu sterben

Feature

»Ich verlange einen Prozess gegen den, der Younis Emad am 26. Januar 2011 tötete.« Die Performance-Reihe »No time for Art« der ägyptischen Regisseurin Laila Soliman erzählt mit Wucht und leisen Momenten von der ägyptischen Misere.

Das »Live Art Festival« auf Kampnagel in Hamburg lädt jedes Jahr aufs Neue Aktivisten aus aller Welt ein, den kritischen Blick auf Politik und Gesellschaft zu schärfen. Der Beitrag, welcher dem Publikum wohl eine Revolution zum Anfassen verspricht, kann seit den Geschehnissen der letzten anderthalb Jahre nur der arabischen Welt entspringen. Aber ist das wahre Geschichtsschreibung, was die Medien darüber zeigen? Eine Hand voll junger ägyptischer Künstler bezweifelt das.

 

Aus diesem Grunde haben sie sich unter der Leitung von Laila Soliman 2011 zusammengefunden, um ihre eigenen Erfahrungen dagegen zu setzen. In vier verschiedenen Performances konfrontieren sie sich selbst noch einmal mit der erlebten Gewalt, ausgeübt von dem ägyptischen Militär- und Polizeiapparat in der Zeit vor und nach dem Beginn der Proteste vom 25.01.2011. Auf Kampnagel zeigten sie vergangene Woche Sequenz 0 und 1 der dokumentarischen »No time for Art«-Reihe.

 

Vor einer großen Leinwand warten vier Stühle darauf besetzt zu werden. Zuerst wird das Wort der Presse übergeben, in Form einer arabischen Nachrichtensendung über die Ereignisse am Tahrir-Platz. Vier junge Frauen und Männer nehmen daraufhin Platz. Sie kommen nicht als Schauspieler daher, sondern als Zeitzeugen ihrer persönlichen Revolution und dem, was davon übrig geblieben ist.

 

Keine Zeit für Kunst

 

Drei Geschichten bringen sie mit, welche sich im Laufe der Performance zu einer einzigen zusammenfügen. Erzählt wird autobiografisch der Bericht eines blinden Trommlers im Tumult der Proteste. Daneben prangert die zeitgenössische Tänzerin und Schauspielerin Shereen Hegazy die Willkür der ägyptischen Polizeibeamten an, welche ihren Bruder Sharif schon 2007 misshandelten und verurteilten. Zur Zeit sitzt er im Gefängnis. In den Kanon stimmt die Schilderung des Schauspielers Aly Sobhy ein.

 

Er wurde während den Protesten gefangen genommen. Für ihn spricht am Abend auf Kampnagel sein Kollege Mina El Naggar, da er selbst aufgrund von Visaproblemen nicht anwesend sein kann. Das Konzept von Laila Soliman sucht nicht nach kunstvollen Bildern und Metaphern, sie will bis auf die »Knochen der Geschichten blicken« lassen. Es gibt also keine Zeit für Kunst, wenn sich Aly an die Massenverhaftungen erinnert: »Wir weigern uns zu sterben. […] Der Boden bedeckt mit Massen aus Fleisch.«

 

Im zweiten Teil ist es vorbei mit voyeuristischen Haltung des Theaterbesuchers. Umschläge werden im Publikum verteilt. Über eine halbe Stunde lesen Zuschauer Namen mit Todesdatum, Ort und Ursache vor. Viele nehmen das Angebot der Produktion an, den Prozess für diejenigen zu fordern, welche im Zuge der Unruhen starben. Die Darsteller positionieren sich im Publikumsraum, ihnen stehen die Tränen in den Augen. Für einige Zuschauer, so raunt es später im Foyer, eine zu persönliche Performance. Aber wie unpersönlich bleiben, im Angesicht der Ereignisse?

 

»Ich will nicht nur eine weitere ›emanzipierte‹ Frau sein, die Ihre Sprache spricht«

 

Laila Soliman erhielt im September 2011 den Willy-Brandt-Sonderpreis für besonderen politischen Mut. Seit 2004 arbeitet sie als freie Autorin und Theaterregisseurin. Ihre gesellschaftlich und politisch reflektierten Arbeiten betraten bereits die Bühnen von New York, London und Beirut. An der Produktion »Radio Muezzin« von Rimini Protokoll, welche 2010 auf Kampnagel gastierte, war sie als Dramaturgin beteiligt. Im Rahmen der Preisverleihung übte sie harsche Kritik an dem »europäischen« Blick auf ihre Person und Leistung.

 

»Ich will nicht nur eine weitere ›emanzipierte‹  Frau sein, die Ihre Sprache spricht, und einen weiteren Preis von Europäern entgegennimmt, im Namen der Freiheit und Demokratie.« Sie forderte vor allem die hiesigen Politiker auf, Seite an Seite mit dem ägyptischen Volk zu kämpfen und Waffenlieferungen an Despoten ein für alle Mal zu stoppen. Von importierten Demokratievorstellung hält sie nicht viel: »Eine Generation hat sich erhoben. Eine Generation, die genug davon hatte und sich nun erhebt, um von Angesicht zu Angesicht mit euch zu verhandeln.« Eine Ansage, der Laila Soliman und viele andere mit Sicherheit Taten folgen lassen.

 

Wer war Younis Emad?

 

Ihr Langzeitprojekt »No time for Art« (NTFA) befindet sich im stetigen Wandel. Die Sequenzen werden aktualisiert, erweitert oder auch ausgesetzt, sollten sie die Realität nicht spiegeln können. »NTFA 2«, was sich mit der Gewalt nach Mubaraks Sturz an Kairoer Straßenkindern auseinander setzte, hat Soliman bis auf weiteres aus dem Programm genommen. Da sich die einst nachgezeichnete, sehr kritische Dimension der Brutalität nicht weitertransportieren lässt. »NTFA 3« feierte nach dem »Live Art Festival« im Ballhaus Naunynstraße in Berlin Premiere.

 

Wieder befasst sich Soliman mit persönlichen Schicksalen. »Inszeniert« wird der Briefwechsel des inhaftierten Sharif Hegazy mit seiner Schwester. Der letzte Name verhallt. Das Zuschauerlicht fährt hoch und der Applaus nimmt zögerlich an Intension zu. Die Besucher schwärmen daraufhin in die nächsten Performances aus. Verbale Pro- und Kontralisten überschwemmen ihre Rezeption auf den Wegen durch Kampnagel und einige suchen wieder und wieder nach der Zeit für Kunst. Betroffenheit argumentiert gegen Methodik und umgekehrt. Wirklich verdaut wird vielleicht später und doch, eine konkrete Frage begleitet durch den Abend: Wer war Younis Emad?

Von: 
Juliane Metzker

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.