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Ägypten vor dem Wahlwochenende

Das Artischocken-Prinzip

Feature

Ägypten hat kurz vor dem Wahlwochenende keine Verfassung und bald auch kein Parlament mehr. Der Militärrat spielt im politischen Tauziehen eine undurchsichtige Rolle – und scheint sich an Friedrich dem Großen zu orientieren.

Für die Zukunft des Großen Königreichs Polen hatte Friedrich der Große ein klares Konzept im Kopf. In seinem politischen Testament aus dem Jahr 1752 verglich er das Land mit einer Artischocke, die man Blatt für Blatt verspeisen müsse – »bis alles geschluckt sei«. Dass Ägyptens Interimsherrscher, Mohammed Hussein Tantawi, den »alten Fritz« kennt, dürfte angesichts der militärischen Laufbahn des greisen Feldmarschalls außer Frage stehen. Nun scheinen er und seine Generäle sich auch an dessen Artischocken-Prinzip zu orientieren und dieses auf die Überbleibsel der Revolution zu übertragen.

 

Harte Kost für die Revolutionäre

 

Das milde Urteil gegen Hosni Mubarak und der Freispruch für seine beiden Söhne Alaa und Gamal war die Vorspeise, die vom ägyptischen Verfassungsgericht für ungültige erklärte Parlamentswahl der Hauptgang und die endgültige Entscheidung, dass Ahmed Schafik, der letzte Premierminister der Mubarak-Ära und ehemalige Luftwaffenchef, zur Wahl um das Präsidentenamt antreten darf, das Dessert; alle Entscheidungen wären ohne Zustimmung, oder zumindest Billigung des herrschenden Militärrats nicht möglich gewesen.

 

Harte Kost für viele Ägypter, die beim wochenlangen Ausharren auf dem Tahrir-Platz Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gefordert hatten und deren Revolution nun »abgeblasen« sei, wie Marc Lynch für das Magazin Foreign Policy kommentierte. Vielmehr, so scheint es, erlebt das Land am Nil gerade einen „«Staatsstreich«; so jedenfalls sieht es der gemäßigte Islamist Abd al-Moneim Abou El Fotouh, der im ersten Wahlgang ausgeschiedene Präsidentschaftskandidat.

 

Die Muslimbruderschaft ist kein Opfer, sondern Gegner auf Augenhöhe für das Militär

 

Ähnlich sieht das der Muslimbruder Subhi Saleh. Er erklärte nach Angaben ägyptischer Medien und dem Bekanntwerden der umstrittenen Entscheidung: »Das Gericht hat Ägypten dem Militärrat auf einem goldenen Teller serviert – und obendrein kostenlos.“« Die Bruderschaft – die das Parlament bisher dominiert hatte, ebenso wie das Gremium zur Ausarbeitung der Verfassung, das jedoch bereits vor Wochen aufgelöst worden war – droht mit der neuerlichen Entscheidung einiges an Macht einzubüßen und stilisiert sich deshalb als Opfer.

 

Doch in Wahrheit ist die von der Graswurzelbewegung zur Kaderpartei gewachsene Bewegung kein Opfer, sondern vielmehr für das Militär ein Gegner auf Augenhöhe. Wenn am Wochenende Ägyptens Bürger aufgerufen sind, ihr Votum für den Mann der Muslimbrüder, Muhammad Mursi, oder Ahmed Schafik zu geben, dürfte – bei fairen, freien und geheimen Wahlen sowie reger Beteiligung – die Entscheidung zugunsten Mursis ausfallen. Einzig: Wie fair, frei und geheim die Wahlen werden, weiß derzeit wohl nur das Militär. Ägypten steht, in einer Art Dauerschleife, wieder vor turbulenten Tagen.

Von: 
Dominik Peters

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