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Ägypten zwischen altem Regime und Muslimbrüder

Islamist gegen Fulul?

Feature

Auf den ersten Blick entscheidet nun ein gespaltenes Ägypten zwischen einem Anhänger des alten Regimes und der Machtergreifung der Muslimbrüder. Aber das Wahlergebnis der ersten Runde ist vielschichtiger.

Das endgültige Wahlergebnis steht seit Montag fest: Muhammad Mursi, der Präsidentschaftskandidat der Partei der Muslimbrüder »Freiheit und Gerechtigkeit« führt mit 5,764,952 Stimmen, 24,8 Prozent der Stimmen, gefolgt von Ahmed Schafik mit 23,7 Prozent. Beide werden voraussichtlich in einer Stichwahl Mitte Juni gegeneinander antreten. »Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera«, sagt Manal, 27. »Entweder wähle ich nun in der Endrunde einen aus dem alten Regime oder einen von den Islamisten.«

 

Nicht nur Manal ist über das Ergebnis enttäuscht und zweifelt, ob bei den Wahlen alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Bereits vor den Wahlen hatten zahlreiche Jugend- und Protestbewegungen die Wahlen boykottiert mit der Begründung, dass viele der Kandidaten illegitim seien, dass zunächst per Verfassung festgelegt werden müsse, welche Zuständigkeiten und Rechte der Präsident habe und dass die Macht sowieso in den Händen des Militärs bliebe: »Ich wähle, du wählst, er wählt, sie wählt...sie gewinnen« ist einer der vielen Sprüche, die an den Wänden der Mohammed-Mahmoud-Straße prangen.

 

Hamdeen Sabbahi, ein linksgerichteter Kandidat, der sich in seiner Wahlkampagnen stark auf Nasser beruft und zur Überraschung vieler die meisten Stimmen in Kairo und Alexandria auf sich versammeln konnte, hat unmittelbar nach der Verkündung der Ergebnisse Klage wegen Wahlbetrugs eingelegt. Auch der Kandidat Abdel Moneim Abou El Fotouh, der sich in seiner Kampagne als moderater Islamist und Vermittler zwischen den Jugendgruppen, den säkularen Bewegungen und den Islamisten präsentiert hat und wider Erwarten nur an vierter Stelle rangiert, hat den Wahlablauf moniert. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter erklärte indes, die Wahl sei insgesamt akzeptabel verlaufen. Die Wahlbeteiligung mit etwa 47 Prozent fiel geringer aus als gedacht.

 

Die Kandidaten mit den besten Ressourcen liegen vorne

 

Viele Ägypter, vor allem Aktivisten und liberal Eingestellte, sind enttäuscht und zweifeln daran, dass die Umbrüche nicht das Ergebnis gebracht haben, für das viele demonstriert haben und gestorben sind. Zwar wird sich nun die ägyptische Bevölkerung entscheiden müssen, ob sie lieber einen Präsidenten haben will, der dem Militär nahe steht und bereits unter Mubarak Minister war oder einen, der islamistische Ideen vertritt – dennoch ist das Wahlergebnis zu vielschichtig, als dass man sagen könnte, dass es sich dabei lediglich um einen Kampf zwischen den so genannten »Fulul«, den Anhängern des alten Regimes, und den Islamisten handele.

 

Muhammad Mursi führt zwar die Statistik an, dennoch sind 24,8 Prozent der Stimmen ein Rückschlag für die Muslimbrüder, wenn man bedenkt, dass sie während der Parlamentswahlen 47 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten. »Ich hatte die Muslimbrüder gewählt, aber als ich dann gesehen habe, dass sie im Parlament nichts machen, wollte ich sie nicht mehr unterstützen«, sagt der Taxifahrer Ahmed, 44 – ein Kommentar, den man vor den Präsidentschaftswahlen häufig in Kairo hörte.  Derlei Aussagen sind vor allem deswegen interessant, weil sie zeigen, dass viele Wähler nicht Mursi als Person gewählt haben, sondern eher die Organisation, die hinter ihm steht. Ähnliches gilt für Ahmed Schafik.

 

Aufgrund seiner Laufbahn wird er in der Regel mit dem Militär in Verbindung gebracht, das trotz aller Kritik immer noch einen relativ guten Ruf bei der Mehrheit der Bevölkerung genießt. Die anderen Kandidaten hingegen sind überwiegend als Unabhängige und ohne Unterstützung einer Organisation angetreten und mussten daher vor allem allein mit ihrer Person punkten. Aufgrund des Rückhalts hatten beide Kandidaten nicht nur enorme finanzielle Ressourcen, mit denen sie ihren Wahlkampf finanzieren konnten, sondern auch viele Wahlhelfer – dies zeigte sich auch im Straßenbild: Nur wenige andere Kandidaten konnten so zahlreich Plakate aufhängen und Faltblätter verteilen wie sie.

 

»Wir müssen arbeiten, essen, leben!«

 

Ahmed Schafik hat es geschafft, sich erfolgreich als Kandidat für Sicherheit und Stabilität zu präsentieren und konnte sich hier auch gegen seinen Widersacher Amr Moussa, dem ehemaligen Außenminister, durchsetzen. Der Slogan, der überall auf seinen Plakaten prangt, drückt das aus, was viele Ägypter sich derzeit wünschen: »Keine Worte, sondern Taten«. »Wir brauchen einen starken Mann, der das Land führt. Hier macht jeder nur noch, was er will. Das Parlament ist ein Theater. Da wird nur geredet. Es gibt keine Sicherheit mehr. Wir müssen arbeiten, essen, leben«, schimpft der Ladenbesitzer Mohammed, 33, der Schafik gewählt hat, weil er glaubt, dass er der richtige Mann für die Lösung dieser Probleme sei.

 

Auch wenn Kairo im Vergleich zu anderen Großstädten immer noch als sehr sicher gilt, hat die gefühlte Sicherheit stark abgenommen. Gerade auch die Bevölkerungsgruppen, die in der Tourismusbranche arbeiten, leiden enorm darunter, dass die Touristen deswegen ausbleiben. Sie haben daher tendenziell einen Kandidaten gewählt, von dem sie glauben, dass er nicht nur schnell die Sicherheit wiederherstellen kann, sondern auch die »richtigen« Signale ins Ausland sendet: »Wenn ein Islamist an die Macht kommt, dann wird kein Ausländer mehr nach Ägypten kommen wollen«, fürchtet der Touristenführer und Schafik-Wähler Ahmed, 25.  

 

Auch ist zu vermuten, dass viele der christlichen Ägypter Schafik gewählt haben: »Ich kann Schafik nicht leiden. Er gehört zum Militär. Aber ich habe mit meinen Freunden gesprochen und wir haben ausgemacht, dass wir ihn wählen, um die Stimmen nicht zu splitten. Wir wollen auf keinen Fall, dass ein Islamist Präsident wird«, rechtfertigt der Ingenieur Magdi, 41, seine Wahl – nicht ohne hinzuzufügen, dass er eigentlich eine zweite Revolution möchte. Folglich konnte Schafik zwar viele Stimmen aus christlichen und anderen Kreisen gewinnen, aber oft weniger aus Überzeugung, als aus strategischen Gründen.

 

Beide Kandidaten müssen sich nun positionieren, um andere Wählergruppen zu gewinnen

 

Hamdeen Sabbahi und Abdel Moneim Abou El Fotouh wurden im Gegensatz zu Schafik und Mursi in den Medien als Kandidaten der Revolution dargestellt. In ihrer Kampagne haben sie ähnlich Zielgruppen angesprochen, was zur Folge hatte, dass sich die Stimmen für sie aufsplitteten und sie daher nicht an erster oder zweiter Stelle rangieren. Zusammen haben sie jedoch mehr als 40 Prozent der Stimmen bekommen – ein Zeichen dafür, dass das Potential zur Unterstützung »revolutionärer« Kandidaten enorm groß ist. »Ich habe Sabbahi gewählt, weil er mit der Revolution ist«, erklärt die Beduinin Noha, 33, die ansonsten weder das Programm noch die politische Stoßrichtung Sabbahis kennt.

 

Die Tatsache, dass diese beiden Kandidaten so viel Wählerunterstützung erfuhren, wird in den kommenden Wochen eine zentrale Rolle spielen und die Wahlkampfstrategien Schafiks und Mursis stark beeinflussen. Beide sind darauf angewiesen, die Wählergruppen der anderen Kandidaten für sich zu gewinnen. Hier gibt es bereits erste Anzeichen: Einige der organisierten Protest- und Jugendgruppen haben Mursi bereits zugestanden, ihn zu unterstützen, »um die Revolution zu schützen«, wenn er seinerseits Zugeständnisse macht.

 

Parlamentsmitglied und Generalsekretär der »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« Mohamed al-Beltagy hat ein Treffen mit Abou El Fotouh and Sabbahi vorgeschlagen, um eine »echte Zusammenarbeit auf nationaler Ebene« zu erreichen. Wenn es Mursi gelingen sollte, sich als ein Kandidat der Revolution zu präsentieren, könnte er die Wahlen für sich entscheiden. Dennoch werden er und auch Schafik damit zu rechnen haben, dass sie die politische Macht nur in Kooperation mit anderen Kandidaten und Protestgruppen gewinnen können. Bereits Montagnacht haben mehrere Hundert in Kairo und Alexandria gegen Schafik demonstriert.  

 

Die Stichwahl ist daher mehr als eine Entscheidung zwischen »Fulul« und Islamist – sie wird davon abhängen, wie geschickt beide Kandidaten sich positionieren werden, um andere Wählergruppen für sich zu gewinnen. Dies wird auch ihre zukünftige Politik beeinflussen.

Von: 
Sarah Wessel

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