Ägyptens politische Zukunft rückt angesichts der gewalttätigen Konfrontation in den Hintergrund. Dabei wären die Muslimbrüder und ihre politischen Gegner gleichermaßen gut beraten, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Seit der Absetzung Muhammed Mursis durch das Militär wird Ägypten tagtäglich von neuen Gewaltwellen heimgesucht. Die Zahl der Todesopfer auf Seiten der Mursi-Anhänger nimmt dabei stetig zu und ein vorzeitiges Ende der Konfrontation ist nicht absehbar. Auch dadurch rückt die Frage nach der politischen Zukunft des Landes in weite Ferne. Jüngst drohte das Militär, die Protestcamps im Stadtteil Nasr City gewaltsam zu stürmen, sollten die Demonstrierenden diese nicht rechtzeitig auflösen.
Damit scheinen weitere blutige Zusammenstöße auf beiden Seiten vorprogrammiert zu sein. Ex-Präsident Mursi wird – auch nach dem überraschenden Treffen mit der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton – nach wie vor vom Militär an einem geheimen Ort festgehalten und verhört. Neben Anstiftung zum Mord werden ihm mutmaßliche Kontakte zur Hamas, der palästinensischen Tochterorganisation der Muslimbrüder, vorgeworfen, sowie Verbindungen zu islamistischen Organisationen im Ausland.
Auch das ungeklärte Schicksal der ermordeten ägyptischen Soldaten am Grenzposten Rafah im vergangenen Jahr, sowie die gegenwärtig sich häufenden Angriffe von islamistischen Terroristen im Sinai dürften hierbei zur Sprache kommen. Egal, wie man die Definitionsfrage um Putsch oder fortgesetzte Revolution dreht und wendet: Die Millionen von Demonstranten, die den Protest auf die Straße tragen, werden auch diesmal nicht die Früchte ihres Engagement ernten.
So vollzog sich auch die Übergangsphase zwischen der Absetzung des früheren Präsidenten Hosni Mubarak und den Präsidentschaftswahlen 2012, als der Oberste Militärrat zwar jegliches Interesse an einer potentiellen Regierungsführung von sich wies, aber dennoch alle wichtigen Amtsgeschäfte im Land selbst führte. Die vielen Verhaftungen, unter anderem von Demonstranten und Bloggern, lösten massive Ausschreitungen und eine allgemein militärfeindliche Stimmung im Land aus, die sich vor allem auf den damaligen Vorsitzenden des Militärrates, Husain Tantawi, fokussierten.
Mursis Alleingänge zogen sich wie ein roter Faden durch die Präsidentschaft
Die Präsidentschaftswahlen 2012 schienen den Ägyptern endlich Gewissheit zu bringen. Durch die konkurrierenden Kandidaturen aus dem Lager, das sich den revolutionären Forderungen verschrieben hatten, erlitt die Revolution einen erneuten Dämpfer. Im zweiten Wahlgang und konnten die Bürger lediglich zwischen dem Muslimbruder Mursi und dem früheren Luftwaffen-Offizier und Mubarak-Vertrauten Ahmad Schafik wählen.
Vehement forderten Intellektuelle wie Alaa al-Aswani damals die Menschen dazu auf, für Mursi zu stimmen, um zumindest die Hoffnung auf den revolutionären Traum am Leben zu halten. Schließlich wurde der promovierte Ingenieur Mursi als erster demokratisch gewählter Präsident vereidigt. Viele Menschen hofften, dass er trotz seiner Zugehörigkeit zur Muslimbruderschaft als »Präsident für alle Ägypter« – eine Selbstbezeichnung Mursis, die er in seiner Amtszeit stets betonte – regieren würde.
Doch Mursis Wahl sollte das einzig demokratische Element seiner Amtsherrschaft bleiben. Die Reihe seiner Alleingänge zieht sich wie ein roter Faden durch Mursis Präsidentschaft. Gegen den Willen der ägyptischen Justiz erließ er bestimmte Dekrete, um auf diese Weise seine Machtbefugnisse stärker auszuweiten. Selektiv begnadigte der Präsident überwiegend islamistische Gefangene, darunter etwa auch Safwat Abdel Ghany, der am Attentat auf Anwar Aal-Sadat 1981 beteiligt war und von Mursi gar in den Konsultativrat berufen wurde.
Kritischen Medien drohte er mit Schließung und ließ unliebsame Journalisten verfolgen, während er die Gründung mehrerer islamistischer Hetzkanäle billigte. Und auch die willkürlichen Verhaftungen von friedlichen Demonstranten, Folter in Gefängnissen und andere Menschenrechtsverletzungen fanden unter Mursi kein Ende. Bis zuletzt setzte sich Mursi sich für eine strenge Auslegung der Scharia in der Verfassung ein. Dahinter steckte der Versuch, religiöse Institutionen verstärkt in die stattliche Gesetzesfindung einzubinden.
Auf diese wären bestimmte Gesetze und Rechte wie etwa das Scheidungsgesetz oder auch Frauenrechte restriktiver als bisher ausgelegt worden. Die Bedenken der säkularen Opposition dagegen überging Mursi einfach – und schürte somit weitere Ängste. So warnte etwa Muhammed Abu Eal-Ghar, Mitbegründer der sozialdemokratischen Partei, vor der Errichtung eines Kalifats als ernstzunehmendes Thema auf der Agenda der Muslimbrüder für die kommenden Jahre, da sich deren Führer, Muhammed Badia, stets dafür ausgesprochen hatte.
Mursis politische Gegner sind nun in der Pflicht
Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass Mursi bis zum Ende seiner Herrschaft versucht hat, alle gesellschaftlich relevanten Bereiche unter die Kontrolle der Muslimbrüder zu bringen. Damit hat er die historische Chance verpasst, das Land nach monatelangen Wirren wieder in die politische Normalität zu führen – eine Gelegenheit, die er so schnell wohl nicht wieder bekommen wird.
Denn die Chancen stehen zurzeit schlecht, dass der Widerstand der Muslimbrüder und ihrer Anhänger Mursi zurück ins Amt trägt – zu sehr zelebriert das Militär seine Allianz mit den Mursi-Gegnern. Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz scheint es dabei auch nicht weiter zu stören, dass einige neu ernannte Minister wieder einmal zur alten Garde aus den Tagen Mubaraks zählen. Doch auch das könnte sich bald ändern, sobald nicht mehr der gemeinsame Feind im Mittelpunkt steht.
Spätestens wenn es um den nächsten Verfassungsentwurf geht, wird das Militär wieder ein gewichtiges Wort mitreden wollen – und damit bereits den nächsten Konflikt heraufbeschwören. Bis dahin stehen Mursi-Gegner und das Militär noch »Hand in Hand« geeint. Während der »islamistische Winter« auf dem absteigenden Ast ist, wird der »Sommer des Militärs« wohl noch viele Menschenleben fordern. Doch wäre es anders gekommen, wenn Mursi an der Macht geblieben und die geforderten Neuwahlen abgelehnt hätte? Hätten sich nicht ebenfalls massive Ausschreitungen, womöglich mit vielen Toten, abgezeichnet?
Man darf daran zweifeln, ob Mursi, der stets die ehrenvollen Verdienste des Volkes und seiner Revolution pries, wirklich daran gelegen war, ein islamisch-demokratisches Modell nach dem Vorbild der Türkei zu errichten oder ob er unter dem Deckmantel seiner demokratischen Wahl an seinem auto- und theokratischen Regierungsstil zementieren wollte. Bis auf wenige Ausnahmen hat Mursi wenig Mühe darauf verwendet, seine Absichten zu kaschieren. Das ist ihm schließlich zum Verhängnis geworden.
Nun befindet sich Ägypten erneut in einer tiefen Umbruchsituation. Die Vorstellung, dass das Land nach der demokratischen Wahl Mursis nun endlich den Weg in die Normalität finden würde, war doch etwas zu romantisch und naiv zugleich. Deshalb erfolgt die Annäherung an die aktuelle Regierung von Seiten des Volkes auch eher schrittweise und mit teils widersprüchlichen Signalen. Die deutsche Regierung verurteilt den Sturz Mursis als »Rückschlag für die Demokratie« und fordert zugleich, dass »die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung sehr schnell wiederhergestellt wird«.
Zugegeben ein etwas voreiliger Appell, denn bis zu diesem Zeitpunkt suchte man vergebens nach einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung im Land. Ab sofort muss die Idee der Demokratie inner- und außerhalb Ägyptens neu verhandelt beziehungsweise definiert werden. Demokratisch gewählt zu werden heißt nicht, dass man sich leichtfertig über demokratische Grundsätze und den Unmut seines Volkes hinwegbewegen darf.
Man muss dem Volk das Vertrauen zurückgeben, durch das man in seinem Amt legitimiert worden ist. Doch auch Mursis politische Gegner sind nun in der Pflicht, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen einen gemeinsamen Konsens-Kandidaten aufzustellen. Der populäre Linkspolitiker und einer der führenden Köpfe der »Nationalen Heilsfront« Hamdeen Sabbahi appellierte in dieser Richtung an seine Mitstreiter – und warf damit zugleich auch den eigenen Namen in den Ring.