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Ägyptens Verfassungsentwurf

Neue Rechte, alte Ordnung

Analyse

Ägyptens Verfassungsentwurf behebt viele Missstände und findet eine klare Sprache. Doch ebenso deutlich zementiert er die Stellung von Armee und Präsidenten – und definiert so die Grundlage der autoritären nachrevolutionären Ordnung.

Politisch geht es in Ägypten bald in die nächste Phase. Wie nach dem Sturz von Muhammad Mursi angekündigt, ist eine neue Verfassung nun seit einigen Wochen ausgearbeitet, über diese soll nun bald demokratisch abgestimmt werden. Am 14. und 15. Januar sind alle wahlberechtigten Ägypterinnen und Ägypter aufgerufen, der Verfassung zuzustimmen oder eben nicht. Was lässt sich über diese Verfassung nun sagen? Ist sie die lang ersehnte demokratische Grundlage eines Staates für alle Ägypterinnen und Ägypter?

 

Zunächst einmal wurde ein anderes Verfahren gewählt, um diejenigen zu bestimmen, die die Verfassung ausarbeiten. Statt wie bei der vorherigen Verfassung das Parlament die Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung wählen zu lassen, was der Parlamentsmehrheit eine enorme Machtfülle verliehen hatte, wurden nun von der (selbsternannten) Übergangsregierung 50 Experten aus Politik, Justiz und Gesellschaft bestimmt, die die ägyptische Gesellschaft repräsentieren.

 

Beim letzten Anlauf Ende 2012 waren durch die islamistische Parlamentsmehrheit Säkulare benachteiligt, dieses Mal boykottierten islamistische Parteien den Prozess und waren damit nicht vertreten. Praktisch gesprochen mangelt es also beiden Verfahren an Legitimität, da jeweils ein Teil der Bevölkerung sich nicht repräsentiert fühlt. Theoretisch betrachtet lässt sich darüber streiten, ob eine einmal gewählte Parlamentsmehrheit oder eine von der Mehrheit der Bevölkerung als legitim angesehene Übergangsregierung das Recht haben sollte, diejenigen zu bestimmen, die die Verfassung schreiben.

 

Inhaltlich bekennt sich die neue Verfassung ausdrücklicher zu Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie als die alte – wenn auch nicht in dem Maße wie gewünscht. Fundamental unterscheiden sich beide Verfassungen nicht, viele Artikel sind wortgleich. Jedoch wird in der neuen Verfassung vieles klarer und ausführlicher definiert, so dass weniger Raum für Missbrauch bleibt.

 

Freiheiten und Menschenrechte

 

Besonders was Freiheiten und Menschenrechte angeht, ist die neue Verfassung eindeutiger. Beispielsweise erkennt die neue Verfassung ausdrücklich internationale Menschenrechtsabkommen an und bekennt sich zu internationalen Definitionen von Menschenrechten, was Menschenrechtsaktivisten als deutlichen Fortschritt werten. Auch aus frauenrechtlicher Perspektive ist die neue Verfassung auf jeden Fall ein Gewinn.

 

Klar und deutlich bekennt sie sich zur Gleichstellung von Mann und Frau und zum Schutz von Frauen vor jedweder Form von Gewalt und Menschenhandel – während die alte Verfassung Frauen lediglich in ihrer Mutterrolle sah. Auch das Thema soziale Gerechtigkeit wird präziser angegangen. Die neue Verfassung schreibt vor, dass die Regierung jährlich mindestens 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Gesundheit, 4 Prozent in Bildung, 2 Prozent in höhere Bildung und 1 Prozent in Wissenschaft und Forschung investieren muss. Auch spezifiziert die Verfassung das Steuersystem als durch Progression auf Umverteilung abzielendes System.

 

Islam und Staat

 

Auch die neue Verfassung bekennt sich zum Islam als Staatsreligion und zu den Prinzipien der Scharia als Hauptrechtsquelle, jedoch wird nun die Entscheidung, ob ein Gesetz schariakonform ist oder nicht, dem Obersten Verfassungsgericht zugesprochen – und nicht der höchsten Lehranstalt für sunnitische Theologie, der Al-Azhar.

 

Dies ist eine wichtige Änderung, da somit eine religiöse Gewalt, die über dem Recht steht, verhindert wird – und somit der Weg in Richtung Theokratie nicht mehr möglich ist. Religiöse Parteien sind laut neuer Verfassung verboten – eine Klausel, die eindeutig gegen die kürzlich als Terrororganisation eingestufte Muslimbruderschaft gerichtet ist. Doch auch andere Parteien, wie etwa die salafistische Al-Nour-Partei, können davon betroffen sein.

 

Semi-präsidentielles System

 

Zunächst fällt positiv auf, dass die zweite Kammer des Parlaments, dessen Aufgaben ohnehin stets im Unklaren geblieben waren, in der neuen Verfassung wegfällt – ein überfälliger Schritt. Ebenfalls gefallen ist die Quote von 50 Prozent der Parlamentssitze für Bauern und Arbeiter, eine gut gemeinte Regelung aus den 1960er Jahren, die längst umgangen und missbraucht wurde und vor allem die Mittelklasse und kleinere, urbane Parteien benachteiligte.

 

Dafür wird nun Frauen eine würdige Repräsentation im Parlament versprochen, die genaue Festsetzung der Frauenquote wird muss allerdings noch festgelegt werden. Auch positiv zu bewerten ist die neu geschaffene Möglichkeit, per Misstrauensvotum des Parlaments dem Präsidenten das Vertrauen zu entziehen. Insgesamt wird die Rolle des Parlaments aufgewertet, jedoch weniger als Kritiker erhofft hatten.

 

Der Präsident kann weiterhin gegen vom Parlament beschlossene Gesetze ein Veto einlegen. Ihm ist es vorbehalten, einen Premierminister aus der stärksten Partei des Parlaments auszuwählen. Besonders brisant ist, dass der Präsident 5 Prozent der Sitze des Parlaments besetzen darf, sodass knappe Mehrheiten durch den Präsidenten entscheidend verändert werden können.

 

Ein weiterer Streitpunkt: Der Präsident entscheidet, ob das Parlament mit Parteilisten oder durch individuelle Direktwahl gewählt wird. Damit bekommt der jetzige Interimspräsident erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments, da durch das Listensystem Parteien gestärkt werden, während Direktwahlen bekannten Personen, besonders den Seilschaften des alten Regimes, Vorteile verschaffen würde.

 

Sonderstellung des Militärs

 

Der strittigste Punkt ist die Rolle des Militärs. Die neue Verfassung garantiert dem Obersten Militärrat das Recht, den Verteidigungsminister aus ihren Reihen auszusuchen, einen zivilen Verteidigungsminister wird es also nicht geben. Doch nicht nur der Verteidigungsminister, auch das Budget des Militärs bleibt auch in der neuen Verfassung außerhalb demokratischer oder ziviler Kontrolle.

 

Militärtribunale, also die berüchtigten Schnellurteile vor Militärgerichten ohne jegliche Bürgerrechte, wird es auch weiterhin geben, allerdings eingeschränkt auf Angriffe oder Verbrechen auf Militäreinrichtungen. Verschiedene Aktivisten und Parteien hatten gehofft, dass die Militärtribunale für Zivilpersonen endgültig abgeschafft würden. Insgesamt ist die neue Verfassung in einigen Punkten besser, weil deutlicher als die alte. Das Parlament hat an Kompetenzen dazugewonnen, jedoch hat der Präsident immer noch eine starke Stellung im politischen System inne.

 

Dennoch schafft es die Verfassung nicht, das Militär in die Schranken zu weisen – insbesondere im Hinblick auf die Absetzung Mursis durch das Militär ein extrem brisanter Punkt. Die Verfassung muss jedoch im Kontext betrachtet werden. Große Teile der Bevölkerung sind nach wie vor wie in Trance in der Verehrung von Verteidigungsminister Abdelfattah Al-Sisi, der für seine »Heldentat«, die Absetzung Mursis und der Verbannung der Muslimbrüder, wie nie zu vor gefeiert wird.

 

An jeder Straßenecke, in jedem Bus oder Taxi hängt sein Konterfei, die Medien feiern ihn in peinlich höchsten Tönen, Popsongs werden zu seinen Ehren geschrieben, Fastfood-Gerichte tragen seinen Namen – die »Sisi-Mania« kennt keine Grenzen mehr. Die absolute Mehrheit der Bevölkerung steht hinter ihm, kritische Stimmen werden immer leiser. Viele rufen danach, dass er sich als Kandidat für die bald folgenden Präsidentschaftswahlen aufstellen soll.

 

Die Armee hat ihm als möglichem Kandidaten bereits das Vertrauen ausgesprochen. Sollte Sisi tatsächlich Präsident werden, wäre erneut ein Militärführer Ägyptens Präsident. Eine Kandidatur Sisis würde die Gesellschaft jedoch noch weiter spalten in glühende Anhänger Sisis und seine Gegner, darunter die Anhänger des abgesetzten Präsidenten Mursi und der Muslimbrüder.

 

Die Verfassung wird an ihrer Umsetzung zu messen sein

 

So gespalten wie die Gesellschaft ist, so aufgeheizt ist die Stimmung. Die Verfolgung politischer Gegner im Namen der Sicherheit beschränkt sich dabei längst nicht mehr auf die Muslimbrüder. Längst werden Kritiker und Aktivisten jeglicher politischer Richtungen in ihren Aktivitäten eingeschränkt, verfolgt oder verhaftet. Ob Schüler, die sich weigern ein Loblied auf Sisi zu singen, oder Lehrer, die sich kritisch über das Militär äußern – Widerspruch und Kritik wird oft rigoros durch Justiz und Medien verfolgt.

 

Künstler und Intellektuelle wie etwa der berühmte Fernsehsatiriker Bassem Youssef, dessen Show überraschend eingestellt wurde, beklagen, dass Zensur und Einschränkung der Meinungsfreiheit nun schärfer als unter Mursi oder gar Mubarak seien. Das neuste Opfer ist eine seit einigen Jahren bekannte Puppe namens Abla Fahita, die eine typische, mittelalte ägyptische Mama verkörpert, die zu Leben, Politik, Gott und der Welt ihre Kommentare abgibt.

 

Plötzlich taucht nun ein gewisser Ahmed Spider auf, ein glühender Verfechter des alten Regimes, und klagt die Puppe Abla Fahita an, in ihrem neuen Werbeclip für Vodafone geheime Nachrichten an die Muslimbrüder zu senden. Der Weihnachtsbaum mit den goldenen Kugeln, die Shoppingmall im Clip, der Hund – all das kann laut Ahmed Spider nur heißen, dass die Muslimbrüder einen Bombenanschlag auf eine Shoppingmall in Kairo an Weihnachten planen.

 

Bezeichnend ist, dass diese »Anklage« im derzeitigen Klima des Misstrauens, der Angst und der Dämonisierung der Muslimbrüder ernst genommen wird und nahezu alle Medien darauf anspringen. Die Verfassung wird daran zu messen sein, wie sie interpretiert und angewendet werden wird. Der Personenkult um Sisi, die Verherrlichung des Militärs, das Klima der Angst, die mediale und polizeiliche Hetze gegen die Muslimbrüder und andere politische Gegner spricht nicht dafür, dass die Interimsregierung einen demokratischen Übergang befördern werden.

Von: 
Victoria Tiemeier

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