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Anhänger und Gegner der Muslimbrüder

Der dritte Platz

Feature

Anhänger und Gegner der Muslimbrüder stehen sich im Protest unversöhnlich gegenüber. Doch am 26. Juli kamen auf einem Platz in Kairo Demonstranten zusammen, die sowohl das Militär als auch die Islamisten ablehnen.

»Nieder mit Mursi, nieder mit Sisi«, singen rund 100 Demonstranten. Auf dem Sphinx-Platz im Kairoer Stadtteil Giza protestieren Ägypter, die sich weder mit den Unterstützern des abgesetzten Präsidenten vor der Rabaa al-Adawiya-Moschee, noch mit den Anhängern des Verteidigungsministers auf dem Tahrir-Platz identifizieren. Auf einem Flugblatt beschreiben sich die Organisatoren als Ägypter, die bereits gegen Mubarak und die Militärherrschaft nach der Revolution protestiert hätten.

 

Sie sind entrüstet, dass Verteidigungsminister Sisi nun »unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung Ägypter töten will«. Am Mittwoch hatte der General im staatlichen Fernsehen zum Volk gesprochen. Mit dunkler Sonnenbrille und in einer perfekt sitzenden, mit diversen Orden dekorierten Uniform rief er die Ägypter dazu auf, seinen angekündigten »Krieg gegen den Terrorismus« mit landesweiten Kundgebungen zu legitimieren.

 

Millionen sind dem Ruf gefolgt, der Tahrir-Platz wirkt noch voller als am 30. Juni. »Gegen Terrorismus« steht auf unzähligen Schildern und Transparenten. Auch bei den staatlichen und privaten ägyptischen Fernsehsendern werden die Proteste gegen die Muslimbrüder durchweg als Proteste gegen den Terrorismus bezeichnet. Ob er wie ein Terrorist aussehe, fragt Khalid, ein Demonstrant bei der Kundgebung der Muslimbrüder vor der Universität von Kairo. Er ist 20 und studiert Ingenieurswissenschaften. »Vor einem Jahr hatten wir die erste demokratische Wahl in unserer 7000-jährigen Geschichte«, sagt er. »Wo ist meine Stimme?«

 

Die Parallelen zu den Massakern während des Militärregimes werden immer deutlicher

 

Khalid will ein streng islamisches Ägypten. Doch trotz seiner konservativen religiösen Ansichten – wie ein Terrorist wirkt er nicht. Auch wenn einige Islamisten brutale Attacken auf Mursi-Gegner verübt haben – insgesamt haben Mursis Unterstützer bislang deutlich mehr Opfer zu beklagen. Dieser Trend setzt sich fort. In den frühen Morgenstunden kommt es zu brutalen Zusammenstößen nahe der Rabaa al-Adawiya-Moschee. Das ägyptische Gesundheitsministerium spricht von 38 Toten und 139 Verletzten, Ärzte vor Ort von über 70 Toten und über 1.000 Verletzten unter Mursis Unterstützern.

 

Die Parallelen zu den Massakern während des Militärregimes werden immer deutlicher. In der Mohammed-Mahmoud-Straße am Tahrir-Platz starben im November 2011 mehr als 40 Demonstranten, überwiegend Anhänger liberaler Bewegungen, bei Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. Dutzende verloren ihr Augenlicht weil Gummigeschosse bewusst auf Augenhöhe abgefeuert wurden. Die Straße ist bekannt für ihre Graffitis, von denen viele an die Opfer des Militärregimes erinnern.

 

Seit Donnerstagabend stehen nun drei Panzer vor diesen Graffitis. Am Schauplatz des Massakers lassen sich begeisterte Anhänger des Militärs mit Soldaten fotografieren. Das gewaltsame Vorgehen gegen die Mursi-Unterstützer erregt hier nur wenige Gemüter. Sie hätten es verdient, sagen einige Demonstranten. Die Muslimbrüder und ihre Anhänger seien »allesamt Faschisten und Terroristen«.

 

Aus Rebellen werden Cheerleader

 

Doch einige kritische Stimmen sind auch hier zu vernehmen. »Die Muslimbrüder sind Ägypter wie wir«, sagt Karim, ein Journalist der liberalen Zeitung Al-Masry Al-Youm. Man müsse zwischen beiden Lagern vermitteln. Doch die Mehrheit steht ohne Vorbehalt hinter General Sisi, der mittlerweile in eine Reihe mit Gamal Abdel Nasser gestellt und als Held gefeiert wird. Über die Übergangsregierung redet kaum noch einer, viele Demonstranten sehen in Sisi bereits den nächsten Präsidenten.

 

Auch »Tamarrod – Rebellion«, die Bewegung, die Unterschriften gegen Mursi sammelte und die Proteste um den 30. Juni organisierte, entwickelt sich mehr und mehr zum Cheerleader für den General und die Streitkräfte. Auf dem Sphinx-Platz ist man besorgt über diese Entwicklungen. »Ich bin froh, dass Mursi weg ist«, sagt Elham, eine junge Lehrerin. Aber mit dessen Absetzung sei die Aufgabe der Streitkräfte erledigt. »Sie sollen uns beschützen, aber nicht regieren.« Ihr Misstrauen gegen die Armee sitzt tief.

 

Seit Anfang 2011 war sie regelmäßig auf der Straße – zuerst gegen Mubarak und dann gegen die anderthalbjährige Militärherrschaft. Und sie hat nicht vergessen, wie brutal die Sicherheitskräfte damals gegen die Proteste vorgingen. Ihre Sorge, dass sich die Geschichte wiederholen könnte, bestätigt sich mehr und mehr. Den Personenkult um den General findet sie erschreckend. Er habe das Volk um ein Mandat für sein gewalttätiges Vorgehen gegen die Muslimbrüder gebeten. Und das Volk habe es ihm gegeben. Das sei das letzte, was das Land jetzt bräuchte. Doch mit dieser Auffassung stehen sie und ihre Mitstreiter bislang relativ alleine da. Ihre Demonstration ist überschaubar und löst sich bald auf.

 

Während auf dem Tahrir-Platz und in der Umgebung Hunderttausende bis tief in die Nacht für Sisi demonstrieren, dauert die Kundgebung auf dem »dritten Platz« nur wenige Stunden. Doch für Sonntagabend ist bereits die nächste Demonstration auf dem Sphinx-Platz angekündigt. Auch die Proteste um den Mord an Khalid Said hätten klein angefangen, sagt Elham. »Doch am Ende trugen sie maßgeblich zum Sturz Mubaraks bei.«

Von: 
Ragnar Weilandt

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