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Arbeitsstandards in der Fremde

Nostalgie oder der verstellte Blick auf sich selbst

Feature

Was haben Doktor-Plagiate, Handwerker, die kommen, wann sie wollen, und Träume von einem besseren Leben miteinander zu tun? Weiße Kartoffel und Orient Beauty hinterfragen die Arbeitsstandards in der Fremde.

»Orient Beauty« – Rana Siblini stammt aus Beirut und ist Sprachwissenschaftlerin und Lehrerin von Beruf. 2010 kam sie nach Deutschland. In Münster schreibt sie an ihrer Doktorarbeit über Nostalgie in der mittelalterlichen arabischen Dichtung. »Weiße Kartoffel« – Stanislaw Strasburger ist polnischer Schriftsteller und freiberuflicher Kulturmanager. Er beschäftigt sich immer wieder mit dem facettenreichen Thema Multikulturalität. Seit mehreren Jahren pendelt er zwischen Köln, Beirut und seiner Heimatstadt Warschau. Orient Beauty und Weiße Kartoffel sprechen miteinander Deutsch. Doch manchmal, wenn es hakt ... Hi, kifak, ça va?

 

Orient Beauty: Ich bin ja so enttäuscht ...

 

Weiße Kartoffel: Beauty, was ist denn passiert? Ist aus der Nostalgie als Forschungsgegenstand etwa eine Alltagserfahrung geworden? So kann’ s gehen.

Orient Beauty: Ach, weißt du, wir aus der Dritten Welt haben eben große Erwartungen, wenn wir in den Westen kommen. Wir glauben fest an ein besseres Leben, und zwar nicht nur in den kleinen Angelegenheiten des Alltags, sondern auch in den großen Dingen des Lebens. Wenn sich dann deine Hoffnung als Illusion entpuppt, schmerzt das sehr.

 

Weiße Kartoffel: Warum sagst du »aus der Dritten Welt«? Dieser schreckliche Begriff ist zum Glück inzwischen aus der Mode gekommen. Obwohl die meisten Deutschen tatsächlich fest daran glauben, im besten aller möglichen Staaten zu leben. Wären die vielleicht enttäuscht, wenn sie dich so reden hören würden.

 

Orient Beauty: Es kommt vor, dass die Menschen das eine denken und etwas anderes tun. Nehmen wir beispielsweise die sprichwörtliche deutsche Pünktlichkeit. Vor ein paar Tagen fing der Abfluss meines Waschbeckens zu tropfen an und ich habe einen Handwerker angerufen. Er kam nachmittags und schaute sich das Malheur an. Es stellte sich heraus, dass er mit der Reparatur nicht am gleichen Tag fertigwerden würde. Wir verabredeten uns also für den nächsten Morgen. Ich blieb zu Hause, verpasste eine wichtige Vorlesung, und was passierte? Der Mann kam Stunden später! Und hat sich nicht einmal richtig entschuldigt. Obwohl er bestimmt davon überzeugt ist, dass ein deutscher Handwerker immer sein Wort hält. Ich habe das so oft erlebt! Die Deutschen brüsten sich gerne mit ihrer Pünktlichkeit, die Realität sieht aber ganz anders aus.

 

Weiße Kartoffel: Der Schein trügt, wie wir auf Polnisch sagen würden.

 

Orient Beauty: Auf Arabisch sagt man »Nicht alles ist Gold, was glänzt.« Aber bist du nicht auf die Dauer enttäuscht vom Leben und Arbeiten in Beirut, Weiße Kartoffel?

 

Weiße Kartoffel: Nein. Bereits 2010 habe ich bei meiner Zusammenarbeit mit dem Büro von »Beirut – Welthauptstadt des Buches« und dem libanesischen Kulturministerium sehr gute Erfahrungen gemacht. Ich weiß, das Büro hat Kontroversen hervorgerufen, aber ich habe es als eine sehr professionelle Institution erlebt: kompetent, pünktlich und engagiert. Ich fand es lustig, dass meine libanesischen Freunde mir das nicht glauben wollten, als ich ihnen davon erzählte. Und was ist mit deinem Handwerker? Der arme Mann hat den Ruf eines ganzes Volkes auf dem Gewissen!

 

Orient Beauty: Hör auf, du weißt genau, dass es nicht darum geht. Vielleicht nehmen wir ein ernsteres Beispiel. Die Deutschen sind auch für ihre Ehrlichkeit bekannt. Und? Vergangenes Jahr erfuhr die Öffentlichkeit, dass der deutsche Verteidigungsminister seine Dissertation zum Teil abgeschrieben hatte und deswegen zurücktreten musste. Ähnlich verhielt es sich mit der Doktorarbeit eines Europaabgeordneten. Ich frage mich, wie viele wissenschaftliche Arbeiten es in Deutschland gibt, die Plagiate sind, und wir wissen nichts davon. Ich bin doch wegen der hohen Standards in der Wissenschaft hierhergekommen, und nun?

 

Weiße Kartoffel: Ist doch deine Chance. Zeig ihnen, wie im Libanon Wissenschaft betrieben wird!

Orient Beauty: Quatsch! Bei uns gibt es doch auch Politiker, die plagiieren ... Aber das ist eine ganz andere Geschichte ...


Die Reihe wird parallel auf Polnisch, Arabisch und Deutsch veröffentlicht.

Gefördert durch das Land NRW. Unterstützt durch das Buchinstitut aus Polen und das Goethe-Institut Libanon.

Von: 
Rana Siblini und Stanislaw Strasburger

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