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Ausrichtung des Eurovision Song Contest

Freiheit versus Popmusik

Kommentar

Mit der Ausrichtung des Eurovision Song Contest will Aserbaidschans Regierung von der desolaten Menschenrechtslage ablenken. Während Menschenrechtsaktivisten protestieren, versuchen die Veranstalter, den Wettbewerb unpolitisch zu halten.

Sie heißen Lys Assia, Emel oder Ze Flying Zezettes Orchestra. Vierzehn Schweizer Musiker und Bands treten am 10. Dezember in der Bodensee-Arena in Kreuzlingen gegeneinander an. Sie konkurrieren darum, wer im Mai die Schweiz beim Eurovision Song Contest (ESC) 2012 in Aserbaidschan vertreten darf. Das gigantische Pop-Event beschert dem Gastgeberland nicht nur hohe Einschaltquoten und damit Werbeeinnahmen, sondern soll außerdem wie eine große Marketingveranstaltung für Aserbaidschan funktionieren. Geschätzte 125 Millionen Zuschauer werden das Finale weltweit verfolgen.

 

Das ist ein Grund, warum der diesjährige Gastgeber Aserbaidschan sich die Vorbereitung des Musikwettbewerbs einiges kosten lässt. So wird derzeit eine große Mehrzweckhalle mit dem vielversprechenden Namen »Baku Chrystal Hall« gebaut. Zudem wird die Stadt auf Hochglanz poliert. Ein Luxushotel eröffnet neben dem anderen: Günstige Übernachtungsmöglichkeiten beim ESC werden rar gesät sein – Baku liegt auf Rang 19 der teuersten Städte Europas.

 

Das Geld für das Großprojekt kommt aus der boomenden Wirtschaft des ölreichen Landes. Der Großteil der Gewinne allerdings verschwindet in den Taschen der kleinen, totalitär regierenden Elite um Präsident Ilham Aliyev: Die Kaukasusrepublik lag 2010 auf dem Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 134 von 178 Staaten. Nun hofft die Regierung, mithilfe des ESC etwas gegen Aserbaidschans angeschlagenes Image als korrupter Rentierstaat und Missachter von Menschenrechten tun zu können.

 

Kurzer Hoffnungsschimmer

 

Im Mai, kurz nach dem Sieg des aserbaidschanischen Duos Ell und Nicki beim ESC-Wettbewerb in Deutschland herrschte unter Aserbaidschans Demokratieaktivisten noch ausgelassene Aufbruchstimmung: Unerwartet wurden der seit 2007 aufgrund seiner regierungskritischen Schriften inhaftierte Journalist Eynulla Fatullayev sowie 89 weitere Gefangene freigelassen. Viele vermuteten dahinter einen geschickten Propagandafeldzug. Die Regierung nutzte die internationale Medienaufmerksamkeit, um sich in ein gutes Licht zu rücken.

 

Doch einige sahen darin auch einen Schritt in die richtige Richtung: Sie erwarteten im Zuge der Vorbereitungen auf die Show in Baku weitere Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte. Die Direktorin des Bakuer »Instituts für Frieden und Demokratie«, Leyla Yunus, rief dazu auf, die Regierung entsprechend unter Druck zu setzen: »Wir müssen für Meinungs- und Versammlungsfreiheit kämpfen und die Freilassung aller politischen Gefangenen fordern«, sagte sie kurz nach Fatullayevs Entlassung.

 

Seitdem deutet jedoch nichts mehr auf eine Besserung hin. Ein neuer Bericht der nichtstaatlichen Organisation Amnesty International (AI) bescheinigt sogar, dass sich die Menschenrechtslage in den letzten zwei Jahren massiv verschlechtert hat. Mindestens siebzehn Dissidenten sitzen weiterhin in Haft. Politische Demonstrationen werden immer wieder kurzerhand polizeilich aufgelöst und viele Teilnehmerverhaftet, wie zahlreiche Youtube-Videos zeigen.

 

Im August wollte der deutsche Europarats-Abgeordnete und Sonderberichterstatter für politische Gefangene Christoph Strässer nach Aserbaidschan reisen, um sich selbst ein Bild zu machen, doch er bekam kein Visum. Mitte November kritisierte der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages Aserbaidschans fortgesetzten Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention, die das Land im Jahr 2002 unterschrieben hatte.

 

Freiheiten nur für Fans

 

Die ölverwöhnte Regierung der Kaukasusrepublik hat offensichtlich kein Interesse an einer richtigen Öffnung. Zwar wurde den Fans, der anreisenden Presse und den Mitarbeitern des ESC von Präsident Aliyev die Presse- und Bewegungsfreiheit sowie die erleichterte Einreise während der Veranstaltungstage zugesichert – wie auch der hiesige Veranstalter, das Schweizer Fernsehen, begeistert verkündete. Von Zugeständnissen an die aserbaidschanische Bevölkerung ist jedoch bisher nichts zu sehen.

 

Nun wurde die Schweizer Sektion von Amnesty International aktiv und lancierte eine Kampagne: Die Organisation verschickte vergangene Woche einen Ansteckbutton mit der Aufschrift »Free me« an alle vierzehn Schweizer Teilnehmer. Zur Freude des aserbaidschanischen Bloggers Adnan Hajizade, der selbst siebzehn Monate für seine Überzeugungen in seiner Heimat im Gefängnis saß: »An jeder Zeremonie braucht es ein Kind, das schreit: ›Aber der König ist ja nackt!‹« Indem sie den Button trügen, könnten die Schweizer Künstler schon bei der Show in Kreuzlingen, die am Internationalen Tag der Menschenrechte stattfindet, auf die schwierige Lage im ESC-Gastgeberland aufmerksam machen. Das Schweizer Fernsehen reagierte allerdings ablehnend. Der ESC dürfe nicht als politische Bühne benutzt werden, so wollten es die Regeln.

Von: 
Sara Winter Sayilir

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