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Azaz in Syrien

Das Leben kehrt zurück nach Azaz

Feature

Zwei Monate nachdem die FSA den Grenzort Azaz bei von Aleppo eroberte, beginnen die Einwohner ihre Stadt wieder aufzubauen – und sind meist auf sich allein gestellt. Sie hoffen auf wirtschaftliches und militärisches Eingreifen der Türkei.

Durchatmen, zur Ruhe kommen, kann Azaz nicht. Die Kleinstadt mit ihren kaum 30.000 Einwohnern, wenige Kilometer hinter der türkisch-syrischen Grenze gelegen, bleibt strategischer Knotenpunkt im Bürgerkrieg Syriens. Waren es im August noch Panzer, Soldaten und Milizionäre, die das Stadtzentrum, seine Schulen und Moscheen verwüsteten, sind es heute die Bomben der syrischen Luftwaffe, die den Menschen den Schlaf rauben.

 

Und doch machen sich die wenigen Verbliebenen auf, ihre Ortschaft wieder zum Leben zu erwecken. Wie ein Großteil des Hinterlands Aleppos ist auch Azaz landwirtschaftlich geprägt, Olivenöl der größte Wirtschaftsfaktor. Obwohl viele Menschen hier der alawitischen Staatsführung kritisch gegenüberstehen, verglichen mit den ökonomischen Zentren Aleppo und Damaskus in Armut leben und die Arbeitslosigkeit vor der Revolution viele Einwohner in den Libanon oder an den Golf trieb, sehen sie in den neuen Machthabern, der Freien Syrischen Armee, keine Heilsbringer.

 

»Nichts ist den Verlust von Menschenleben wert«, ereifert sich Muhammad*, während er zwischen dem Schutt und den Steinen umher läuft, die bis zur Nacht des 15. August die Häuser seiner Nachbarn waren. Ein Bombenangriff zerstörte dutzende der weißen Kalksteinhäuser und tötete nach BBC-Recherchen rund 30 Menschen.

 

»Hier hilft jeder zunächst sich selbst, aber dann werde ich die Trümmer mit meinen Kindern eben allein abtragen.« Erst anschließend wolle er zu seinem Ackerland zurückkehren. Wenige Häuserblöcke weiter, nahe der Großen Moschee, deren bei den Kämpfen eingerissenen Minarette ein großes Loch in die Kuppel gerissen haben, hat der Vogelhändler Hassan* seinen Laden wieder eröffnet.

 

»Wir möchten endlich wieder so leben wie zuvor. Der Krieg muss schnell aufhören und es ist mir gleich, welche Armee ihn beendet.« Eine Offensive der Türkei auf syrischem Gebiet würde er begrüßen. »Nur Gott weiß, was danach kommt.« Zwar organisieren die Offiziellen der Freien Syrischen Armee inzwischen die Verteilung von Hilfsgeldern aus dem Ausland wie auch der nötigsten Gebrauchsgüter und mischen sich in den bislang meist unkontrollierten Schmuggelverkehr über die türkische Grenze ein. Gegen den Mangel an zahlreichen Produkten können sie nur wenig unternehmen.

 

In den vergangenen Tagen wurden die Frontkrankenhäuser in Aleppo mehrfach unter Beschuss genommen

 

Anwohner berichten, dass sich teils bis zu 200 Menschen in Schlangen vor den verbliebenen Bäckereien versammelten. Fotografen lassen sie inzwischen nicht mehr auf das Gelände – zu groß ist die Furcht, der Standort könnte über die internationale Presse in die Hände der syrischen Artillerie und Luftwaffe gelangen. In den vergangenen Tagen konnten so Frontkrankenhäuser in Aleppo mehrfach unter Beschuss genommen werden.

 

Der zentrale, mit Wellblech überdachte Markt ist indes den ganzen Tag über belebt, nur die Hälfte der rund 50 Läden ist geschlossen. Die restlichen bieten in kleinen Mengen Obst, Fleisch und billigen Modeschmuck an. Durch Zufall wurde dieser Teil der Stadt von den Kämpfen bislang verschont. Sobald Kampfjets jedoch einen Angriff auf ein Ziel in der Grenzregion außerhalb Aleppos geflogen haben, springen im einzigen verbliebenen Krankenhaus Aleppos drei Ärzte auf.

 

Ohne professionelle Ausbildung – zuvor haben sie wenige Jahre als Pharmazeuten oder Sanitäter gearbeitet – kümmern sie sich in und um Azaz um die Verletzten. »In der vergangenen Woche kamen im Schnitt jeden Tag drei Personen mit Schrapnellwunden zu uns«, erzählt einer von ihnen, während sein Kollege gelangweilt die nackten Füße auf den Lebersessel ihm gegenüber legt.

 

Gerade sind keine Patienten in Pflege, doch im Schnitt kämen die Flugzeuge gerade alle zwei Tage. Im Gegensatz zu vielen improvisierten Krankenhäusern nahe der Frontlinie fehlt es hier weniger an Material als an Ärzten. Besonders die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« hat der früheren Privatklinik zahlreiche Kisten mit – teils abgelaufenen – Medikamenten überlassen, die nun im Magazin im Keller gelagert werden.

 

Die Lösung für zahlreiche Probleme dieser Ärzte könnte in einem Klinik-Neubau liegen, der gerade auf dem Gelände des Flüchtlingslagers unmittelbar am Grenzübergang hochgezogen wird. »Bislang kommen nur sehr wenige Menschen aus dem Lager nach Azaz, um sich behandeln zu lassen. Bald kann ihnen direkt dort geholfen werden.«

 

Die Flüchtlingslager sind für die meisten Einwohner in Azaz keine Option

 

Obwohl die Lager den Flüchtlingen zahlreiche Dienstleistungen bieten, sind sie für die meisten Einwohner in Azaz keine Alternative zu ihren oft zerbombten Häusern. »Dort müssten wir hinter Zäunen leben und wären entweder völlig an die türkischen Behörden oder an die Freie Syrische Armee gebunden«, erklärt Walid*, der als Übersetzer beim örtlichen Pressezentrum arbeitet, seine Vorbehalte.

 

In Azaz aufgewachsen, möchte er seine Kraft lieber auf den Wiederaufbau konzentrieren und zeigt stolz die ersten begonnenen Projekte. Die größten Anstrengungen investiert die Ortsgemeinschaft aktuell in die Betriebsnahme der zahlreichen Olivenpressen der Stadt – wohl der wichtigste Wirtschaftszweig in Azaz.

 

In einer bis auf mehrere alte Industriemaschinen und Mühlsteine leeren Werkhalle knien mehrere Jugendliche über bunt ummantelten Kupferdrähten und versuchen die Elektrik des Betriebs zu reparieren. Ihr beleibter Arbeitgeber erzählt stolz, dass hier zur Erntezeit zehn Personen Arbeit fanden, seit vielen Generationen ein Familienbetrieb.

 

Eben jene Erntesaison steht in rund einem Monat an und die örtliche Ölbranche versucht, sich darauf vorzubereiten. »Sollte die Sicherheitslage es zulassen, werden wir natürlich raus auf unsere Felder gehen. Wenn nicht, dann helfe uns Gott.« Darüber hinaus hoffen zahlreiche Bauern der Umgebung auf Hilfe des Nationalrats bei der Anschaffung neuer Erntemaschinen, auch Benzin muss teuer aus der Türkei importiert werden.

 

Die Preise hätten sich bereits auf rund einen Dollar je Liter verzehnfacht. Die Vision der Bauern ist es, in wenigen Jahren ihre Produkte ins Ausland exportieren zu können. Bislang wurde der Außenhandel von Assad-nahen Unternehmern in den Gouvernements Latakia und Tartus kontrolliert. Der erste Schritt hin zur Normalität sei aber, dass die Kämpfe in Aleppo beendet werden und die Kinder wieder eine Schule besuchen, gibt sich Walid zuversichtlich. Nur so kann er seine Ausbildung zum Englischlehrer beenden. *Namen geändert

Von: 
Nils Metzger

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