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Bücher über den »Islamischen Staat«

Den »Islamischen Staat« verstehen

Feature

Das selbsternannte Kalifat mit seinem propagandistischen Popanz lädt ein zu historischen Vergleichen. Wer die Strukturen der Terrorgruppe verstehen will, sollte aber lieber gut recherchieren. Zwei Autoren gelingt das ausgezeichnet.

Abgehackte Köpfe, eine Terrorgruppe, die auf Staat macht und für sich in Anspruch nimmt, die einzig islamisch legitimierte Herrschaftsform zu neuem Leben zu erwecken: Der selbsternannte Islamische Staat stellt die Weltpolitik vor große Probleme. Auch für Sachbuchautoren ist »das Kalifat« scheinbar schwer zu greifen – anders ist nicht zu erklären, dass sie sich auf mehr oder weniger gewagte historische Analogien verlegen: Loretta Napoleoni (»Die Rückkehr des Kalifats«) fühlt sich beim Islamischen Staat an die Gründung Roms erinnert.

 

Der FAZ-Korrespondent Rainer Hermann (»Endstation Islamischer Staat?«) wähnt die Araber inmitten eines neuen Dreißigjährigen Krieges. Spiegel-Reporter Christoph Reuter (»Die schwarze Macht«) sieht in den Staaten der arabischen Welt mit ihrer Unfähigkeit, angemessen auf den IS zu reagieren, Wiedergänger der »Schlafwandler« in Europas Hauptstädten am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Diese hatten, folgt man dem Historiker Christopher Clark, eher aus fehlender Weitsicht denn mit Absicht die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts herbeigeführt. Besonders hilfreich sind diese Anleihen an der Geschichte nicht, verdecken sie doch, dass mit klassischer Recherche und der Analyse von Hintergründen sehr wohl der Aufstieg des IS nachzuvollziehen ist, seiner Brutalität und der perfiden Propaganda zum Trotz.

 


Die Schwarze Macht

Der »Islamische Staat« und die Strategen des Terrors

Christoph Reuter

Deutsche Verlagsanstalt, 2015

351 Seiten, 19,99 Euro

 

Zwei Büchern gelingt dies hervorragend, indem sie wie mit dem Mikroskop die Lage in Syrien und dem Irak untersuchen. Dabei gehen Christoph Reuter und der Irak-Kenner Wilfried Buchta sehr unterschiedlich vor. Reuter hat als Reporter für den Spiegel so kenntnisreich wie kein anderer deutscher Journalist aus Syrien berichtet, er verfügt über exzellente Kontakte zu Vertretern syrischer Rebellengruppen und zu zivilgesellschaftlichen Aktivisten. Diese Quellen bilden eine Grundlage für seine Schilderung, wie sich der Islamische Staat beziehungsweise seine Vorläufer in Syrien eingenistet haben, ohne dabei auf den Widerstand des Assad-Regimes zu stoßen.

 

Eine zweite Grundlage ist eigentlich eine journalistische Urtugend: Stärker als andere Beobachter hinterfragt Reuter die Propaganda des IS, er seziert sie und stellt so einige Lügen der angeblich so frommen Krieger bloß: Für Journalistenschüler sollte Reuters Buch zu Pflichtlektüre werden und, schön wäre es, auch für Möchtegern-Dschihadisten aus Europa, die so einiger Illusionen beraubt werden könnten. In Syrien, das macht Reuter deutlich, sind die meisten Opfer des IS nicht etwa Alawiten oder Christen, sondern Mitglieder anderer Rebellengruppen, Sunniten wie die IS-Kämpfer auch.

 


Endstation Islamischer Staat?

Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt

Rainer Hermann

Deutscher Taschenbuchverlag, 2015

144 Seiten, 12,90 Euro


 

Wesentlich für Reuters Darstellung ist noch eine dritte Quelle: Er konnte Unterlagen des früheren irakischen Geheimdienstobersts Haji Bakr auswerten, der bis zu seinem Tod 2014 Chefplaner des IS war. »Was Haji Bakr entwarf«, schreibt Reuter, »war kein Glaubensmanifest, sondern der technisch präzis entworfene Bauplan für einen ›Islamischen Geheimdienst-Staat.‹« Einen Staat, in dem jeder jeden überwacht.

 

Einen Staat, der zwar einen islamistischen Anstrich hat, der aber zumindest bis Ende 2014 nicht von religiösen Fanatikern beherrscht wurde, sondern von »glaubensfreien Ingenieuren der Macht« – vor allem Männer aus den ehemaligen Geheimdienstapparaten Saddam Husseins. Diesen Männern bereitete es auch keine Probleme, mit dem säkularen Regime in Syrien zu kooperieren, solange es ihnen machttaktisch genutzt hat, das legt Reuter sehr plausibel dar.

 

Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta wählt eine andere Herangehensweise. Dem verunglückten Titel seines Buches zum Trotz (»Terror vor Europas Toren«) konzentriert er sich auf den Zerfall des Iraks. Dabei setzt er auf historischen Tiefgang – womit nicht Erläuterungen über die Spaltung der islamischen Gemeinschaft in Sunniten und Schiiten im 7. Jahrhundert gemeint sind. Die finden sich mehr oder weniger prominent in jeder Neuerscheinung über den Islamischen Staat.

 

Nein, der Clou des Buchs ist, dass der Autor minutiös die irakische Geschichte im letzten Jahrhundert aufdröselt. Buchta, der von 2005 bis 2011 als politischer Analyst für die Vereinten Nationen in Bagdad tätig war, beschreibt eindrücklich, wie Saddam Hussein seinen eigenen Staat nach der Niederlage im Kuwait-Krieg absichtlich ausgehöhlt hat. Aus Angst vor einem Umsturz schwächte er die Armee, die Baath-Partei und andere staatliche Institutionen. »An ihre Stelle war ein, allein auf persönliche Bindung an Saddam Hussein gegründeter, ›Schattenstaat‹ getreten.« Dieser Schattenstaat wurde von Geheimdienstkräften dominiert – keiner sollte dem anderen trauen.

 


Terror vor Europas Toren

Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht

Wilfried Buchta

Campus Verlag, 2015

413 Seiten, 22,90 Euro

 

Diese Netzwerke sind eine Blaupause für die Strukturen des Islamischen Staates – auch weil viele Akteure ohne große ideologische Skrupel vom einen autoritären Staat in den anderen gewechselt sind. Die Schwächung der Institutionen durch Saddam Hussein ist auch ein Schlüssel dafür, dass die USA mit ihrem Demokratisierungsprojekt im Irak so kläglich gescheitert sind. Gewiss nicht der einzige, Buchtas nüchtern geschriebenes Buch ist fern jeder Eindimensionalität. Präzise beschreibt er, wie ahnungs- und konzeptlos die US-Regierung und ihre Vertreter im Irak agiert haben. Ausführlich geht er auch auf den Einfluss Irans im Nachbarland ein. »Terror vor den Toren Europas« ist eine echte Entdeckung, ein Buch, an dem sich andere Werke über die Region messen lassen müssen.

 

Die italienische Analystin Loretta Napoleoni legt ihren Schwerpunkt auf die Attraktivität des Kalifats für frustrierte Muslime weltweit. Mit klugen Gedanken stellt sie dar, dass der IS keineswegs als rückwärtsgewandte Kraft zu sehen ist, sondern sich auf äußerst moderne Weise der Werkzeuge der Macht bedient. Der Rückgriff auf das historische Kalifat ist dabei für Napoleoni eine erfolgreiche Marketingmaßnahme. Allerdings wandelt die Autorin auf einem schmalen Grat: Richtig ist, dass der IS nicht unterschätzt werden darf, man muss aber auch aufpassen, seiner politischen PR nicht allzu leichtgläubig zu trauen.

 

Napoleoni stellt auch die beinahe ketzerische Frage, ob die internationale Staatenwelt beginnen sollte, mit dem Kalifen zu verhandeln, sollte der IS dauerhaft erfolgreich sein. Eine direkte Antwort gibt die Autorin klugerweise nicht – ihre Ausführungen, wie ein solches Szenario zu verhindern ist, fallen aber leider eher dünn aus.

 


Die Rückkehr des Kalifats

Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens. Aus dem Englischen von Peter Stäuber 

Loretta Napoleoni

Rotpunktverlag, 2015

158 Seiten, 18,90 Euro

 

Die Journalisten Hermann und Reuter sowie der Analyst Buchta gehen dagegen eher davon aus, dass der IS militärisch zurückgedrängt werden kann. Optimistisch sind ihre Szenarien aber keineswegs: Spiegel-Reporter Reuter betont, wie wandlungsfähig der IS bislang war und dass er in Syrien immer Rückzugsräume finden werde, solange Baschar al-Assad an der Macht ist. Wilfried Buchta stellt ernüchtert fest, dass die führenden Politiker im Irak »kein ernsthaftes Interesse an einem Ende der Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten haben«.

 

FAZ-Redakteur Hermann geht gleich mehrere Schritte weiter: Er sieht den »Dreißigjährigen Krieg der Araber« erst am Beginn und hält es für möglich, dass ein Nachfolger des IS seine Weltherrschaftsfantasien noch offensiver verfolgt und dem Rest der Welt den Krieg erklärt. Solch globale Erklärungsansätze mögen die schaudernde Fantasie anregen, kombiniert mit hinkenden historischen Vergleichen führen sie aber nicht weiter. Eigentlich müsste Hermann das wissen, schreibt er doch über den Begriff des Arabischen Frühlings: »Er eignet sich gut für Talkshows, verstellte aber den Blick auf das, was tatsächlich geschah.«

Von: 
Moritz Behrendt

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