Die türkische Justiz sieht den Brandanschlag auf ein alevitisches Kulturfestival 1993 in Sivas als verjährt an. Die Wut der Opfer über die halbherzige Untersuchung der Vorfälle und die Straffreiheit für die mutmaßlichen Täter ist groß.
»In diesem Land kommen Sie straffrei davon: Wenn Sie einen Aleviten verbrennen, aufgrund der Verjährungsfrist, wenn Sie einen Armenier töten, aus Mangel an Beweisen und wenn Sie einen Kurden töten, aufgrund Ihres Heldentums« – etwa so kommentierte ein anonymer Tweet die aktuelle Lage in der Türkei. Aktuellen Anlass für so viel bitteren Sarkasmus bot eine Entscheidung des Strafgerichtshofes in Ankara am 13. März: Demnach sei der Brandanschlag auf ein Hotel in Sivas im Juli 1993, bei dem 37 Menschen ums Leben kamen, nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen und daher verjährt.
Für fünf Angeklagte, die bisher als unauffindbar galten, bedeutet dieses Urteil nun Straffreiheit. An zahlreichen Orten kam es bei Protestkundgebungen gegen das Urteil zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Vor allem die religiöse Minderheit der Aleviten fühlt sich von dem Entscheid um ihr Recht auf einen fairen Prozess betrogen – schließlich waren die meisten der Opfer von Sivas alevitischen Glaubens und als Künstler hoch angesehen.
Geschätzte 15-30 Prozent der Bevölkerung der Türkei sind Aleviten. Schon zu osmanischen Zeiten waren sie religiöser Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt, was sich trotz gegenteiliger Hoffnungen auch mit der Gründung der türkischen Republik 1923 nicht änderte. Bis heute sind die Aleviten in der Türkei keine anerkannte religiöse Minderheit. Sunnitisch-konservative und faschistische Gruppen in der Türkei sehen in den Aleviten Häretiker. Mehrfach kam es in der Vergangenheit zu progromartigen Übergriffen auf Aleviten – unter anderem 1978 in den Städten Corum und Kahramanmaras, bei denen mehr als hundert Menschen ums Leben kamen.
Damals, im Juli 1993, waren im Sivaser Hotel Madimak zahlreiche Künstler – unter Ihnen bekannte Größen wie der Schriftsteller Aziz Nesin, der Musiker Metin Altiok und der Dichter Muhlis Akarsu – zu Ehren des legendären Dichters Pir Sultan Abdal zusammen gekommen. Kurz zuvor hatte der Linksintellektuelle Nesin konservativ-sunnitische Kreise unter anderem dadurch in Aufruhr versetzt, dass er Teile des umstrittenen Salman Rushdie-Klassikers »Die Satanischen Verse« ins Türkische übersetzt und herausgegeben hatte. Und so versammelte sich nach dem Freitagsgebet ein aufgebrachter Mob aus schätzungsweise 20.000 Personen vor dem Tagungshotel in Sivas, um Nesin zum Schweigen zu bringen.
Dessen Allianz mit den als Ungläubige und Ketzer betrachteten Aleviten tat ihr übriges. Erst wurden einige Autos vor dem Hotel in Brand gesetzt, dann das Hotel. Das Feuer wuchs in Kürze, mehr als dreißig Menschen verbrannten oder erstickten, unter ihnen Altiok, Akarsu, der Autor Asim Bezirci, das musikalische Ausnahmetalent Hasret Gültekin und der Sänger Nesimi Cimen. Nesin überlebte mit leichten Verletzungen, wäre jedoch beim Verlassen des Hotels um ein Haar von der wütenden Menge gelyncht worden.
Auf dem rechten Auge blind
Obwohl Polizei und Feuerwehr zeitig alarmiert worden waren, griffen die Sicherheitskräfte erst nach acht Stunden ein. Bis heute ist unklar, wer die Menge konkret aufgehetzt hat. Darüber hinaus gab es keine hinreichende Ermittlung zu der Frage, warum die Sicherheitskräfte nicht rechtzeitig eingriffen. Und doch gab es jahrelange Gerichtsverhandlungen. Für etwas über dreißig Angeklagte endeten diese sogar mit einem Schuldspruch. Angesichts eines wütenden Mobs von mehreren Zehntausend und den vermeintlichen Verantwortlichen im Hintergrund erscheint diese Zahl jedoch sehr gering.
Und wirklich – zahlreiche Verdächtige wurden gar nicht erst gefasst: Einer der Hauptverdächtigen, Cafer Ercakmakci, Mitglied des damaligen Stadtrats von Sivas, und weitere acht, damals entflohene Angeklagte sind heute noch auf freiem Fuß. Bemühungen, die fliehenden Schuldigen zu fassen, gab es kaum. Dieses Jahr stellte sich sogar heraus, dass manche Verdächtige noch nicht einmal versucht hatten zu fliehen: Einige von ihnen haben inzwischen den Militärsdienst absolviert, einen Führerschein erhalten und sogar geheiratet. Es stellt sich die Frage, ob der Staat überhaupt je gewillt war, die Flüchtigen zu fassen. Einer der mutmaßlichen Täter lebte anscheinend jahrelang in der Nebenstraße des Tatorts, bis zu seinem natürlichen Tod letztes Jahr. Andere sollen nach Deutschland geflohen sein und sich bis heute dort aufhalten.
Nach dem Urteil von Ankara haben diese Menschen nun nichts mehr zu befürchten. Metin Altioks Tochter, Zeynep Altiok-Akatli, ist von der Justiz zutiefst enttäuscht: »Ich bin auch eine Bürgerin dieses Landes. Was habe ich denn verbrochen, dass mich dieses Land aufs Neue bestraft? Der Staat rührt keinen Finger um die Täter zu ausfindig zu machen oder zu bestrafen. Doch die Asche kühlt nicht einfach ab – sie wird nie abkühlen.« Ähnlich äußerte sich auch der Sohn des verbrannten Nesimi Cimen, der Komponist Mazlum Cimen, bei einem Gespräch auf CNNTurk: »Dies ist eine Wunde unserer Gesellschaft.«
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan kommentierte den Ankararer Entscheid mit den Worten, das Urteil möge der Türkei guttun. Übrigens, 25 der beteiligten Richter des Sivas-Prozesses sind AKP-Mitglieder. Ausgerechnet ihm sollte am Wochenende in Bochum der sogenannte »Steiger Award« in der Kategorie Europa verliehen werden, um ihn stellvertretend für das türkische Volk für 50 Jahre deutsch-türkische Freundschaft auszuzeichnen. Menschenrechtsorganisationen sowie die Vereinigungen der verschiedenen Minderheiten der Türkei kündigten Protestkundgebungen an. Auch verschiedene deutsche Organisationen wie der Journalistenverband kritisierten die Preisverleihung scharf. Das zeigte Wirkung: Die Vernastalter zogen die Auszeichung für den türkischen Premier am Wochenende zurück.