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Das Regime in Usbekistan

Der Ausnahmezustand als Normalität

Feature

Das Regime in Usbekistan verteidigt den Status Quo seit über 20 Jahren mit harter Hand. In dieser Umwelt, in der kein Verlass auf Gesetze ist, vertraut man denen, die einem am nächsten stehen – und auf zwei Verhandlungsstrategien.

Die Vorbereitungen für die Neujahrsfeier laufen bereits auf Hochtouren: im Familienkreis wird es zentralasiatische Leckereien geben und die lokalen Administrationen schmücken die Städte und Dörfer mit Plakaten und Blumen. Es ist Dienstag, der 20. März, ein Tag vor Navruz, einem der großen nationalen usbekischen Feiertage. Doch noch Dienstag Abend trifft die Nachricht ein, dass der »Vater der Nation«, Präsident Islam Karimow, ein Dekret verabschiedet hat, in dem er offiziell die Feiertage verschiebt.

 

Mittwoch bleibt wider Erwarten ein offizieller Arbeitstag, dafür verwandeln sich der Donnerstag und der Freitag in Feiertage – am Sonntag muss aber gearbeitet werden. Präsidentenerlass – und als Anweisung von oberster Spitze in einem hierarchisch aufgebauten Staat wie Usbekistan damit oberstes Gebot. Man mag diese Flexibilität der Planung als orientalische Gelassenheit und Spontaneität auffassen und damit als Kleinigkeit abstempeln, doch sie ist weit mehr.

 

Sie ist ein kleines, aber prägnantes Beispiel für eine Gesellschaft, in der sich niemand auf allgemein anerkannte und verpflichtende Spielregeln verlassen kann. Denn genau so willkürlich, wie Feiertage verschoben werden, wird über sämtliche Fragen des alltäglichen Lebens bestimmt. Jeder Tag wird zum unalltäglichen – und der morgige damit ebenso unplanbar wie der heutige. Der Ausnahmezustand als Normalität.

 

Der Umgang mit nationalen Feiertagen ist in Usbekistan ein Spiegel der rechtlichen Rahmenbedingungen, denn Navruz ist nicht die einzige offizielle Neujahrsfeier. Am 1. Januar eines Jahres beginnt das neue Jahr nach westlicher Zeitrechnung, basierend auf dem gregorianischen Kalender; der 15. Januar läutete für die Sowjets das neue Jahr nach julianischer Zeitrechnung ein und Navruz markiert das neue Jahr nach alter persischer Zeitrechnung.

 

In Usbekistan feiert man sie alle drei, wodurch der Jahresbeginn nicht nur seinen Charakter als Neuanfang und Neuorientierung verliert, sondern auch seine Identität als ordnungsstiftendes Element, als allgemein akzeptiertes und gesellschaftlich verbindliches Datum. Wie sich vor-sowjetische, sowjetische und neue »usbekische« Feiertage durch ihre parallele Existenz gegenseitig aufheben und miteinander im stillen konkurrieren, so verirren sich auch der Staat und die Gesellschaft im Dschungel neuer und alter Gesetze.

 

Kafkaesker Spießrutenlauf durch administrative Flure

 

Aus Sicht des einzelnen Bürgers könnte man die freie Wahl des Datums für die Neujahrsfeier als positiven freiheitlichen Nebeneffekt werten. Egal ob jung oder alt, für jeden gibt es den passenden Neuanfang und die entsprechende offizielle Veranstaltung. Bedenkt man aber, dass jeder »Diener des Staates« in sämtlichen kleinen wie essentiellen Rechtsentscheidungen, wie denen des Arbeitsrechts, des Aufenthaltsrechts, des Handelsrechts oder Familienrechts, die selbe Wahlfreiheit genießt, so kann die spontane Dynamik des gesellschaftlichen Lebens nur erahnt werden.

 

Als Konsequenz entsteht ein rechtsfreier Raum, durchzogen von einem Dickicht aus neuen und alten Gesetzen, die je nach Rang des Beamten und Status des Bürgers frei verhandelbar sind. »Verhandelbar« orientiert sich in diesem Kontext an den Merkmalen der Akteure und deren Machtasymmetrie: Status, Geschlecht, Herkunft, Verwandtschaftsgrad und finanzielle Ressourcen. »Frei« bedeutet, dass sich jeder, bei entsprechender Position, aus wirklich jeder Lage »verhandeln« kann.

 

Doch was bedeutet diese Konstellation für den Einzelnen? Gerät eine unbekannte Person in die Fänge der Bürokratie, so sieht sie sich einem Berg von Regeln und Gesetzen gegenüber. Mit ernster, offizieller Miene wird der zuständige Beamte die Fülle von Gebühren, Dokumenten und nötigen notariellen Beglaubigungen aufzählen, die zu erfüllen sind, inklusive der Verweise zu weiteren Behörden.

 

Wer bei der Ernsthaftigkeit der Verkündung und den anfallenden Kosten noch nicht blass geworden ist, wird sich im naiven Glauben an eine funktionierende Bürokratie, in einem kafkaesken Spießrutenlauf durch administrative Flure verlaufen und Monate oder gar Jahre auf die Erfüllung seiner Wünsche warten müssen. Der finanzielle, zeitliche und nervliche Aufwand ist kaum zu ermessen. Ohne Schaden zu nehmen, kann nur der diesen nach sozialer Herkunft determinierten Raum verlassen, dessen Machtposition es erlaubt.

 

Beziehungsnetzwerke sichern ein Mindestmaß an Stabilität 

 

Zwei Strategien helfen aus dieser scheinbar unausweichlichen Situation: die subdominante oder die dominante Strategie. Bei der subdominanten Strategie wird der Bittsteller sich dem Beamten unterwerfen und mit Bezug auf eine schwache finanzielle Situation und seine Familie an seine Menschlichkeit appellieren. Nach einem theatralischen Hin und Her wird sich der Beamte erbarmen und dem armen Bittsteller ein brüderliches Angebot machen. Er würde ja eigentlich nur nach Vorschrift handeln, aber für diese arme Seele wäre er bereit eine Ausnahme zu machen und – gegen ein gewisses Entgelt – die offiziellen Wege ein wenig verkürzen. Die dominante Strategie ist weniger diplomatisch.

 

Mit ernster und aggressiver Mine wird aus dem Bittsteller ein Forderer. Durch Drohungen und Aggressivität werden beide Parteien versuchen, die jeweils andere einzuschüchtern. Herkunftsort, sozialer Status, berufliche Position und vor allem Bekanntschaft oder Verwandtschaft mit hochrangigen Bekannten sind die entscheidenden Karten, um die eigene Position durchsetzen zu können. Beide Strategien können zum schnellen Erfolg führen.

 

Man muss jedoch in der Position sein, die dominante Strategie anwenden zu können. Meist handelt sich dann um einen finanziell gut gestellten Mann mit hervorragenden »Freunden« in wichtigen Positionen. Für eine mittellose Frau ohne nennenswerte Ressourcen wird aus dem »frei verhandelbar« ein unangenehmes Diktat, das sich bis zur kontinuierlichen Ausbeutung steigern kann. Zwischen diesen beiden Extremen liegen Graustufen, wobei sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem sozialen und finanziellen Abhängigkeitsverhältnis befindet.

 

In dieser Umwelt, in der kein Verlass auf Gesetze ist, vertraut man denen, die einem am nächsten stehen: Familie, Freunde, Studien- und Arbeitskollegen. Beziehungsnetzwerke, die über Jahre durch gegenseitige Reziprozität aufgebaut und erhalten werden, sichern ein Mindestmaß an Stabilität in jeder Beziehung – von Basargeschäften bis zu Exportgenehmigungen. Der kollektive finanzielle, kulturelle und besonders psychische Schaden der Gesellschaft und jedes ihrer Mitglieder bleibt jedoch unermesslich.

 

Usbekistan ist 1991 als unabhängiger neuer Staat aus der Sowjetunion entstanden. Das »usbekische Modell«, das seit mehr als zwei Jahrzehnten die Transformationsstrategie Karimows beschreibt, ist durch so genannte graduelle Reformen gekennzeichnet. Dies meint den langsamen und graduellen Reformprozess zu Demokratie und Marktwirtschaft. Karimows Regime verteidigt den Status Quo seit über 20 Jahren mit harter Hand. Ungewollte politische oder wirtschaftliche Konkurrenten werden bedingungslos mundtot gemacht und im Namen der nationalen Sicherheit als Islamisten, Separatisten oder Fundamentalisten gebrandmarkt.

 

Hinter diesen unzähligen leeren Phrasen bleibt am Ende lediglich ein System zurück, dass sich durch die kontinuierliche Abschöpfung von Renten selbst seine eigene Basis entzieht. Es bleibt die Frage nach dem passenden Datum für das neue Jahr, aber bis dahin vergehen noch viele Monate. Belassen wird erst einmal alles beim Alten, dies ist für heute schon Beschäftigung genug, um sich nicht ausgiebig ums Übermorgen kümmern zu können. Frohes Neues Jahr.

Von: 
Alexander Kalim

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