Der selbsternannte Bruderfrüher ist tot, aber dass Demokratie im post-revolutionären Libyen Einzug hält, ist längst nicht ausgemacht. Viele Fragen sind noch offen – einige wichtige hat Kurt Pelda in einem brillanten Buch beantwortet.
Über Muammar al-Gaddafi wurde außerhalb Libyens jahrelang viel geschmunzelt: Im Laufe seines Despoten-Daseins legte er sich Fantasieuniformen zu, ebenso wie eine Amazonen-Leibgarde, führte einen eigenen muslimischen Kalender ein und schlug FIFA-Chef Sepp Blatter einst vor, nicht mehr nur elf gegen elf spielen zu lassen – sondern hundert gegen hundert.
Unvergessen bleibt ebenso sein Aufenthalt in Rom aus dem Jahr 2010, als er mit 30 reinrassigen Berberpferden und eigener Zeltstadt in die italienische Hauptstadt gekommen war und hunderten Models eine Koran-Lehrstunde gegeben hatte. Leisten konnte sich Gaddafi seinen Eskapaden getränkten Cäsarenwahn dank des Ressourcenreichtums seines Landes, den er dem Westen gegen harte Dollars verkaufte. Doch diese Zeit ist nun vorbei, Gaddafi tot, seine Familie aus dem Land geflüchtet oder in Gefangenschaft.
Nun weht über Tripolis die rot-schwarz-grüne Trikolore mit weißem Halbmond und Stern. Ein neues Libyen entsteht, in dem seine Bürger hoffentlich bald auch einmal über ihre demokratisch gewählten Repräsentanten schmunzeln dürfen, ohne Jahre in einem finsteren Verlies fürchten zu müssen. Kurt Pelda hat den Umsturz und den Neubeginn zum Anlass genommen, ein Buch zu schreiben: »Gaddafis Vermächtnis: Waffen, Öl und die Gier des Westens«. Er will sich damit der »Verlogenheit der Realpolitik« entgegen stemmen und das »öffentliche Gedächtnis auffrischen«.
Von belgischem Waffenfett und Gaddafis Menschenrechtspreis
Das gelingt ihm nicht nur durch ein mit anschaulichen Tabellen gefülltes Kapitel über die wirtschaftliche Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten und Libyen oder die Auflistung der Rüstungslieferanten, die bei französischen Flugzeugen und russischen Panzern anfängt und bei belgischem Waffenfett und spanischen Granaten aufhört – sondern auch mit weniger bekannten Details, wie der Tatsache, dass der amtierende türkische Premierminister Erdogan im Jahr 2010 von Gaddafi einen Menschenrechtspreis entgegennahm.
Pelda selbst ist im Laufe der libyschen Revolution sieben Mal nach Nordafrika gereist und berichtet nun eindrücklich von diesen umkämpften Tagen, die ihn zum Hörgeräteträger haben werden lassen. Besonders die Ausführungen des ehemaligen Afrika-Korrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung zum Berberaufstand an der tunesischen Grenze sind von bisher nicht dagewesener Anschaulichkeit, ebenso wie die Erörterungen zu den Verstrickungen des Gaddafi-Regimes in zahlreiche Konflikte in Afrika.
Brillant wird dieses Buch dadurch, dass der Autor den Leser in einer Zeitmaschine mitnimmt und die jüngsten Ereignisse ebenso historisch erklärt wie in die Zukunft schaut. Ausgehend von einem Schneider, »der jetzt statt Anzügen Revolutionsfahnen näht«, blickt man auf die Zeit vor Gaddafi, als das faschistische Italien einen Traum vom »mare nostrum« hegte und eine halbe Million Libyer dafür ihr Leben lassen müssen.
Man blickt aber auch auf die Zeit nach Gaddafi, in der Vetternwirtschaft und Korruption an der Tagesordnung zu sein scheinen und ein fragwürdiger Demokratieansatz geübt wird, indem die Gesundheitsministerin ihre Schwester zur Stabschefin ihres Ministeriums ernennt und die Namen aller Mitglieder des Übergangsrates bis heute nicht bekannt sind. Abgerundet wird diese Publikation durch aufschlussreiche Karten und ein hervorragendes Glossar, in dem nicht nur sämtliche Gaddafi-Familienmitglieder porträtiert werden, sondern auch der italienische Architekt Marcello Piacentini, dessen Kolonialbauten noch heute zu finden sind. Im langsam aus Ruinen auferstehenden Libyen.
Gaddafis Vermächtnis: Waffen, Öl und die Gier des Westens
Kurt Pelda
Orell Füssli, 2012
254 Seiten, 16.95 Euro