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Der Kampf gegen den IS und die Kurden

Die Koalition mit den Kurden

Analyse

Die USA haben ihre Strategie im Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) geändert und wollen nun ausgewählte Rebellen und 20.000 syrische Kurden für eine Bodenoffensive bewaffnen – eine Zerreißprobe für die Beziehungen zu alten Verbündeten.

Die Rolle der kurdischen Kämpfer in Syrien ist dem Nato-Partner Türkei ein Dorn im Auge, weil Recep Tayyip Erdoğan einen Kurdenstaat mehr als den IS fürchtet. Bei seinem Besuch in Brüssel Anfang Oktober setzte der türkische Präsident die mit der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK verbündete Kurdenmiliz PYD, die einen autonomen Staat anstrebt, mit dem »Islamischen Staat« (IS) gleich.

 

Für Washington bleiben die Kurden aber die wirksamste Waffe gegen den IS. Mit Hilfe von 20.000 kurdischen Kämpfern und bis zu 5.000 syrisch-arabischen Rebellen wollen die US-Amerikaner das Headquarter der Islamisten in Raqqa im Norden Syriens isolieren, wie die New York Times berichtet. Unabhängig davon bereitet die kurdische Volksverteidigungseinheit YPG, der bewaffnete Arm der PYD, einen Angriff auf die letzte IS-kontrollierte Grenzstadt zwischen Syrien und der Türkei vor.

 

Grenzstadt Jarabulus im Visier

 

Jarabulus am linken Ufer des Euphrat ist seit zwei Jahren in der Gewalt des IS und einer der Hauptumschlagplätze für das selbst ernannte Kalifat. Sollte die Stadt an die YPG fallen, wäre das nach dem Verlust von Kobane und Tall Abyad ein weiterer strategischer Rückschlag für die Terrormiliz. Jarabulus ist bereits von kurdischen Kämpfern umzingelt, eine Offensive stehe kurz bevor, wie Idris Nassan, YPG-Sprecher von Kobane, bestätigt.

 

Zugute kommt den kurdischen Kämpfern die Erfahrung mit unkonventioneller und asymmetrischer Kriegsführung, auch und gerade in Gefechten mit Islamisten, darunter die mit Al-Qaida verbündete Dschihadisten-Gruppe Jabhat Al-Nusra. 500 Meter weiter, rechts des Euphrats, liegt die türkische Stadt Karkamis. Intakte Brücken gibt es nicht mehr. Der Übergang ist hinderlich. Seit Jahren nutzt der IS diesen Teil der Grenze zwischen der Türkei und Syrien, um ausländische Extremisten und Waffen in das Bürgerkriegsland zu schleusen.

 

»Die türkischen Behörden haben nichts dagegen gehabt«, sagte der gebürtige Tunesier Ebrahim B. in einem ARD-Interview im Juni 2015. Der deutsche Staatsbürger war im Sommer aus Syrien zurückgekehrt, nach drei Monaten in Diensten des IS. »Uns wurde gesagt, an der Grenze spazieren türkische Soldaten, ihr braucht keine Angst zu haben, die schießen nur nach oben, die wissen, wer ihr seid, und sind dabei.«Stimmt die Aussage, könnte das ein Indiz dafür sein, dass die Priorität der Regierung in Istanbul nicht darin liegt, den IS zu besiegen, sondern dass mit allen Mitteln das Entstehen eines kurdischen Staates an der Grenze zur Türkei verhindert werden soll.

 

Ankaras Ruf nach einer Pufferzone wird lauter Bereits jetzt kontrolliert die YPG ein Gebiet im Norden Syriens, das sich über 450 Kilometer entlang der türkischen Grenze erstreckt. Würde das de facto autonome Gebiet »Rojava« im nordöstlichen Teil des Landes mit der syrisch-kurdischen Enklave Afrin im Nordwesten des Landes verbunden, hätten die Kurden die gesamte syrische Grenze zur Türkei besetzt.

 

Nicht zuletzt deshalb werden Ankaras Forderungen nach einer durch die US-Koalition geschützten Pufferzone auf syrischem Boden zwischen Jarabulus und der Stadt Azaz im Gouvernement Aleppo lauter. Das russische Eingreifen in den Konflikt Anfang Oktober hat Erdoğan nervöser gemacht. Dass Obama in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung, »eine Zusammenarbeit in der Syrienfrage mit Russland« als möglich erachtete, dürfte Ankara zudem beunruhigen.

 

Offiziell will die türkische Regierung mit dem Schutzstreifen syrische Flüchtlinge in der Türkei vor dem IS schützen. Das Vorhaben könnte aber auch als Warnung an die Kurden verstanden werden: Jarabulus ist die rote Linie, die ihr nicht überschreiten dürft, ohne mit türkischer Intervention zu rechnen. Bisher ist die US-Regierung den Forderungen der Türkei nicht nachgekommen. Zum einen müsste eine solche Schutzzone von irgendjemandem beschützt werden – wer soll das leisten? Zum anderen würde sich die ohnehin schon verfahrene militärische Situation weiter verkomplizieren. Außerdem hat die US-Koalition im Schulterschluss mit der YPG bereits zuvor wichtige strategische Erfolge gegen den IS erzielt.

 

Konflikt mit der PKK wird weiter angeheizt

 

Dabei steht die mit der YPG verbündete PKK nach wie vor auf den Terrorlisten der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Von der Türkei werden beide Milizen militärisch bekämpft. Nicht nur hier wird die Absurdität einer Politik deutlich, mit der sich die Nato-Partner Türkei und USA im Kampf gegen den IS gegenseitig im Weg stehen.

 

Sollte sich bewahrheiten, dass hinter dem verheerenden Anschlag in Ankara Mitte Oktober die IS-Miliz steckt, erschiene diese Politik umso absurder. Erdoğan heizt die Stimmung weiter an, indem er auch im Zusammenhang mit dem Massaker die PKK verdächtigt und erneut mit dem IS gleichsetzt. Alleine zwischen Juli und August hat die Türkei unter der Vorgabe, den IS bekämpfen zu wollen, mehr als 500 Luftangriffe gegen die PKK und die YPG geflogen, wie die BBC im August meldete. Dabei fanden hunderte der kurdischen Kämpfer den Tod. Stellungen des IS wurden demzufolge aber nur  dreimal beschossen. Der Konflikt zwischen PKK und dem türkischen Staat hat in den vergangenen 30 Jahren fast 40.000 Menschenleben gefordert. Der Waffenstillstand, der 2013 vereinbart wurde, fand im Sommer 2015 ein jähes Ende.

 

Barzani will sich in türkische Angelegenheiten nicht einmischen

 

Ein weiterer Mitspieler verkomplizierte die Situation weiter: die kurdische Regionalregierung (KRG) unter Massoud Barzani im Nordirak. Zwar bekämpfen die unterschiedlichen kurdischen Gruppierungen allesamt den IS – auch gemeinsam, wie etwa in Kobane und dem Sinjar-Gebirge – doch pflegt Barzani nicht nur wirtschaftliche Beziehungen, sondern auch gute diplomatische Bande zur Türkei. So hat er die PKK zwar nie direkt für ihre Angriffe auf türkische Polizisten und Soldaten verurteilt, aber seinen Missmut über die Eskalation doch deutlich gemacht.

 

Das Töten »wird keine Probleme mit der Türkei lösen«, sagte Barzani dem kurdischen Fernsehsender Rudaw. Seine Partei KDP werde sich in türkische Angelegenheiten nicht einmischen. Barzani steht sowohl den Türken als auch der US-Koalition nahe. Dabei bewegt sich der Westen mit der Unterstützung der KDP auf dünnem Eis: Das Verhältnis zwischen der mehrheitlich sunnitischen kurdischen Regierung in Erbil und der überwiegend schiitischen Regierung in Bagdad unter Haider Al-Abadi – der irakische Staat ist ebenfalls Mitglied der US-Koalition im Kampf gegen den IS – ist jedoch miserabel. Auch das hat vor allem wirtschaftliche Gründe.

 

KRG vor dem finanziellen Kollaps

 

Laut irakischer Verfassung stehen der kurdischen Regionalregierung im Nordirak 17 Prozent des jährlichen Haushaltes zu. Geld wurde aber seit mehr als eineinhalb Jahren nicht mehr ausgezahlt. In einem kürzlich veröffentlichten Brief warnte Kawan Jamal Tamir, KRG-Repräsentant in London, vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch seiner Regierung. Noch dazu hat der syrische Bürgerkrieg, von den Vereinten Nationen in die höchste Nothilfestufe eingestuft, die Autonome Region Kurdistan mit Flüchtlingen überschwemmt.

 

Dazu kommen Iraker, die aus anderen Teilen des Landes vor dem IS in den Norden geflohen sind. Laut neuesten Zahlen bietet der Nordirak derzeit 280.000 Syrern und 1,5 Millionen Irakern Schutz. Alleine im Jahr 2014 suchten durchschnittlich 80.000 Binnenflüchtlinge pro Monat Asyl in der Region, was zu einem Anstieg von 30 Prozent der Bevölkerung führte. Die Weltbank schätzt, dass die kurdische Regierung 1,4 Milliarden US-Dollar auftreiben müsste, um diesen drastischen Bevölkerungszuwachs finanziell auszugleichen. Auch die internationalen Hilfspläne für die Region sind chronisch unterversorgt: Der sogenannte »Strategic Response Plan« ist gerade einmal zu 26 Prozent finanziert; der »Refugee Response Plan« zu 19 Prozent. Real- und geopolitische Interessen bremsen effektiven Kampf gegen den IS

 

Barzani bliebe nur eine Möglichkeit, um schnell an Geld zu kommen: der Export von Öl, das im kurdischen Teil des Landes gefördert wird. Die Krux: Auf diese Ressource erhebt auch die Zentralregierung in Bagdad Anspruch. Das wiederum ist der Grund, weshalb die USA und andere verbündete Staaten es ablehnen, dieses Öl zu importieren. Nur ein Land unterstützt die irakischen Kurden: Israel importiert einem Bericht der Financial Times zufolge mittlerweile mehr als 75 Prozent seines Ölbedarfs aus der Autonomen Region Kurdistan. Ein Indiz dafür, dass sich Israel indirekt am Kampf gegen den IS beteiligen will und die Kurden als stabilen Partner bewertet.

 

Doch die Regierung in Erbil geißelt nicht nur die finanzielle Notlage. Den Peschmerga, der offiziellen Armee der Region, fehlt es an modernen Waffen. Hier wären die USA und ihre Verbündeten gefragt. Doch Bagdad fürchtet, die Kurden könnten eine Aufrüstung nutzen, um nicht nur den IS zu zerschlagen, sondern auch ihre endgültige Unabhängigkeit vom Irak zu erkämpfen. Die US-Koalition wiederum ist besorgt, dass Waffenlieferungen an die Peschmerga in die Händen der verbotenen PKK gelangen könnten. Bisher gibt es keine Beweise dafür, dass Waffen an die PKK weitergeleitet worden wären.

 

Auch das deutsche Verteidigungsministerium geht Medienberichten zufolge davon nicht aus. Doch wäre es nicht auszudenken, was es für die ohnehin schon strapazierte Nato-Allianz bedeutete, würde etwa ein türkischer Soldat oder Polizist von einem PKK-Kämpfer mit einer vom Westen gelieferten Waffe erschossen.

 

Waffenlieferungen als Notwendigkeit

 

Unter anderem Deutschland hat die Kurden in diesem Sommer mit Waffen beliefert. Auch hat die Bundesregierung Soldaten abgestellt, um die Peschmerga in der Abwehr atomarer, biologischer und chemischer Waffen auszubilden.

 

Die militärische Unterstützung der Kurden macht durchaus Sinn: Dem IS ist es im vergangenen Jahr unter anderem bei der Eroberung von Mosul gelungen, hochmoderne Waffen zu erbeuten, die irakische Soldaten auf der Flucht zurückgelassen hatten. Das Material stammt fast ausschließlich aus der Zeit nach dem Zweiten Golfkrieg und wurde der Zentralregierung in Bagdad von den USA überlassen. Die Gefahr wird nicht kleiner. Vergleicht man Karten von 2014 mit aktuellen Karten, stellt man fest: Die Terrormiliz kontrolliert fast unverändert das gleiche Gebiet wie schon vor einem Jahr. Ausnahmen sind die von Kurden kontrollierten und bevölkerten Regionen, sowohl im Irak als auch in Syrien.

 

Obwohl dieses Volk so vielseitig ist wie seine Sprachen und Religionen und das Verhältnis der verschiedenen kurdischen Gruppierungen zur Türkei und den USA unterschiedlicher nicht sein könnte, haben sich die Kurden bisher als zuverlässigste Waffe gegen den Terror bewährt. Das könnte die Nato-Verbündeten letztlich zwingen, auch gegen Widerstand der Türkei, alte Allianzen zu verschieben oder zumindest zu überdenken.

Von: 
Mirjam Fischer und Julie Lenarz

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