Der Oberste Militärrat treibt Gewalt und Medienhetze gegen missliebige Aktivisten unbekümmert fort. Doch trotz offenkundiger Beweise bleibt die Solidarität der Bevölkerung mit den Demonstranten aus.
»Lügner!« steht in dicker roter Schrift auf der Titelseite der unabhängigen Tageszeitung Al-Tahrir. Gemeint sind der Oberste Militärrat und Premierminister Kamal al-Ganzouri, die auch weiterhin behaupten, die ägyptischen Sicherheitskräfte übten sich in Zurückhaltung. Darunter ein Bild, das bereits in den sozialen Netzwerken für Entrüstung sorgte und sich nun über Fernsehen und Zeitungen seinen Weg in die ägyptische Gesellschaft bahnte. Das Bild zeigt eine Frau, gehalten von zwei Soldaten. Hilflos liegt sie mit dem Rücken zum Boden. Ihre Abbayya – ihr schwarzer Überwurf, wie sie ihn gewöhnlich vollverschleierte Frauen tragen – ist zerrissen. Ihr nackter Bauch und der blaue BH sind deutlich zu sehen. Genauso wie der Fuß des Soldaten, der dabei ist, diese Frau, die da hilflos und entblößt vor ihm liegt, in den Bauch zu treten. Ein Skandal.
Das Bild spricht Bände und straft die Äußerungen des Obersten Militärrats, dass man keine exzessive Gewalt gegen Demonstranten anwende, Lügen. Es zeigt die blinde Brutalität der Sicherheitskräfte – insbesondere der paramilitärischen »Al-Amn Al-Markazi«. Der eigentliche Skandal aber am Publikwerden dieses Fotos ist der entblößte Bauch und der blaue BH. In einer Gesellschaft, in der sogar Kussszenen zensiert werden, ist bereits die Tatsache, dass die Soldaten ihr die Kleider vom Leib rissen, eine Schande – und ein Armutszeugnis für das ägyptische Militär.
Kaum vier Wochen sind nach den blutigen Zusammenstößen auf der Mohammad Mahmoud-Straße vergangen, da brennt es wieder am Tahrir – vielmehr am Platz vor dem Kabinett und der anliegenden Kasr El-Nil-Straße. 13 Tote und mehr als 800 Verletzte sind die Bilanz der neuerlichen Auseinandersetzungen in Kairos Innenstadt. Immer wieder verwickelt das Militär die Aktivisten in Kämpfe und Auseinandersetzungen – immer mit demselben Kalkül und dem gewünschten Ergebnis: Die Aktivisten verlieren zunehmend den Rückhalt in der Bevölkerung. Aus der einst so gefeierten Jugend Ägyptens, den Helden des Tahrirs, wurde »ein Haufen von Unruhestiftern«, »eine Bande von Kriminellen, Drogenabhängigen, Arbeitslosen, die das Land destabilisieren wollen«, so die Rhetorik von Militärrat und staatlichen Medien.
Ungenierte Dementi trotz erdrückender Beweislast
Es ist ein makaberes Schauspiel, das sich da abspielt in Ägypten. Bereits seit Monaten führen Mitglieder des Obersten Militärrats eine Hetzkampagne gegen Aktivisten. Mithilfe des staatlichen Medienapparats erklärt man sie zu Staatsfeinden und Handlanger ausländischer Mächte – und provoziert damit immer wieder Gewaltausbrüche.
Wie im Juli, als General Hassan al-Ruweini die »Bewegung des 6. April« im Staatsfernsehen des Landesverrats bezichtigte. Sie würden Gelder vom Ausland beziehen und seien in Jugoslawien trainiert worden. Anschuldigungen, die in den Abbasseyya-Vorfällen und einer Jagd auf Mitglieder des »6. April« kulminierten. Oder, im Oktober, als das Staatsfernsehen »ehrbare Ägypter« aufforderte, auf die Straße zu gehen, um dem Militär beizustehen, das von koptischen Demonstranten angegriffen werde. Mehr als 20 Ägypter verloren damals ihr Leben.
Zahlreiche Videos, Fotos und Liveübertragungen zeigen, wie Militärpanzer Menschen überrollen, Soldaten, die auf Demonstranten schießen, Aktivisten, die von Entführungen und sexuellem Missbrauch berichten, Wohnungen und Parteizentralen, die gestürmt werden. Und sie zeigen Verletzte. Hunderte Verletzte – und trotzdem steht immer wieder ein anderer Offizier vor der Kamera und behauptet seelenruhig, man wende keine exzessive Gewalt gegen Demonstranten an. Mögen da auch noch so viele Berichte über tote Demonstranten mit Schussverletzungen auftauchen, die Militärs bleiben dabei – und streiten einfach alles ab: »Wir haben niemals scharf geschossen.« Was auf den Videos zu sehen ist, ist nie passiert.
Aktivisten erleben, wie eine dreiste Lüge der Nächsten folgt. Es hilft auch nichts, dass jede der Anschuldigungen der Generäle bewiesenermaßen aus der Luft gegriffen ist – die Wahrheit zählt nicht im Propagandakrieg. Gebetsmühlenartig rezitieren die Militärs immer und immer wieder dieselben Stereotypen, um die Demonstranten zu diffamieren. »Baradaei, ein Handlanger des Westens«, die Demonstranten, »drogenanhängige Vandalen und bezahlte Söldner«. Und die Propagandamaschinerie des Militärs greift. Die Unterstützung der Aktivisten im Volk schwindet. Zumindest scheint dies so. Mehr als 50 Menschen mussten innerhalb eines Monats ihr Leben lassen, darunter auch ein hochrangiger Scheich der altehrwürdigen Al-Azhar. Doch der Aufschrei in der Bevölkerung bleibt aus.
Die Generäle setzen auf die altbewährten Verschwörungstheorien
Wieder einmal ist es »die dritte Macht«, die ihr Unwesen in Ägypten treibe. Sie sei schuld an den neuerlichen Auseinandersetzungen um den Tahrir-Platz, erklärt General Adel Emara auf einer am Montag vom Militärrat einberufenen Pressekonferenz. Diese Macht wolle Ägypten systematisch zerstören und destabilisieren. Handlanger, von Dritten bezahlt, haben das Regierungsgebäude angegriffen, berichtet der General weiter »Was hätten wir machen sollen?! Platz machen?« Um seine Worte zu unterstreichen, zeigt der General eine Videokollage von Teenagern, die behaupten, fürs Unruhestiften bezahlt worden zu sein.
»Aber solange es das ehrbare ägyptische Volk und das ägyptische Militär gibt«, verkündet General Emara mit stolz geschwellter Brust, »werden es die Feinde Ägyptens nicht schaffen, Ägypten zu Fall zu bringen.«
Auch auf das Bild der getretenen Frau kommt er zu sprechen: »Ja, der Vorfall ist passiert und wir werden ihn untersuchen. Aber bevor sich alle auf das Bild stürzen, muss man auch die Rahmenumstände betrachten, in denen das Bild entstanden ist.« Die Worte des Generals klingen wie Hohn in den Ohren der Aktivisten. Denn untersucht wurde bislang nichts. Nicht die Toten von Maspero im Oktober, nicht die Toten von Mohammad Mahmoud im November und auch diese Toten werden wohl nicht gesühnt.
Der Militärrat stellt Ägypten vor eine Zerreißprobe
Die Situation im Land spitzt sich immer mehr zu. Aus einer Mauer, die in Kairos Innenstadt errichtet wurde, wurden drei Mauern. Bollwerke aus dickem Sandstein, die Militärs und Aktivisten trennen sollen. Ägypten läuft Gefahr einer Radikalisierung der politischen Lager.
Wie auch schon während der Proteste gegen Mubarak wird gezielt jagt auf Journalisten gemacht, Kameras konfisziert und zerstört – abschreckende Exempel werden statuiert, wie der Fall der Journalistin Mona El Tahawi, die sexuell missbraucht und der beide Arme gebrochen wurden.
Mittlerweile hetzt das Militär gezielt gegen Vertreter unabhängiger Medien und Aktivisten. Sie würden das Volk gegen das Militär aufwiegeln. So bezichtigt der Oberste Militärrat den Verleger und Gründer des Merit-Verlags, Mohammad Hashim, des Verrats an Ägypten. Das kleine Verlagshaus, direkt in der Stadtmitte gelegen, gilt als Sprachrohr der kritischen Autoren wie Alaa Al-Aswani und Notunterkunft für Aktivisten, die während der Demonstrationen Schutz suchen. Mit dieser öffentlichen Anklage lässt das Militär seinen Mob auf Mohammad Hashim los. Sein Verlagshaus – ein Ziel.
Wie es aussieht, wenn der Militärrat ernst macht, erleben Aktivisten gerade am eigenen Leib. 8 der 13 Toten, so berichten staatliche Stellen, wurden durch einen gezielten Schuss in Brust oder Kopf getötet. Man hat die Scharfschützen auf dem Dach der nahegelegenen Mugamma gesichtet.
General will Demonstranten »in Hitlers Öfen werfen«
Frauen werden zunehmend zum Ziel der Militärs. Sie sollen sich unwohl fühlen auf dem Platz, gezielte sexuelle Übergriffe und bewusst hartes und grenzüberschreitendes Verhalten, soll sie abschrecken, die Tausenden von Frauen, die das Bild der friedlichen Demonstrationen bislang prägten. Das Militär weiß, eine Demonstration, an der viele Frauen teilnehmen, ist schwerer zu diffamieren. Aber auch wenn sich die mutigen ägyptischen Frauen nicht abschrecken lassen und weiterhin demonstrieren, haben sie laut Militärpropaganda ihr Recht, sich über sexuelle Belästigung zu beklagen, verwehrt: »Was setzen sie sich auch dieser Gefahr aus. Jeder weiß doch, was auf dem Tahrir geschieht.«
Aktivisten fordern den sofortigen Rücktritt des Obersten Militärrats und schnelle Präsidentschaftswahlen. Die Muslimbrüder, die derzeit führende Kraft in den parallel stattfindenden Parlamentswahlen, fordern eine Untersuchung der Gewalt. Verleger Mohammad Hashim erstattete Anzeige gegen den Obersten Militärrat wegen Verleumdung. Die Medien bezichtigen das Militär der Hetze und das Experiment des zivilen Beratungsrates scheint auch gescheitert – zu viele Mitglieder traten in den vergangenen Tagen aus Protest aus.
Der Militärrat verschärft derweil seine Rhetorik in unerträglichem Maße: Wenn es nach General Abdel Moneim Kato ginge, müssten Demonstranten in Hitlers Öfen verbrannt werden. Zunehmend deutlicher zeigt sich das Gesicht der ägyptischen Militärdiktatur. Was sich früher hinter verschlossenen Türen der Polizeistationen abspielte – Folter, sexueller Missbrauch, Mord – geschieht nun auf offener Straße. Was bleibt, ist eine Militärdiktatur außer Rand und Band.