Der Islamismus ist kein Kind des Orients, sondern durch eine Tradition westöstlicher Anti-Aufklärung entstanden – meint Marc Thörner. Er sieht in den Strategien der NATO am Hindukusch und in Nordafrika eine Gefahr für die Freiheit.
Eine Flugschrift soll es sein – ein wichtiger und hintergründiger Zwischenruf ist es geworden: Marc Thörners »Die arabische Revolution und ihre Feinde« ist ein akribisch recherchiertes Werk, das nachweist, dass die Außenpolitik des Westens nicht nur auf tönernen Füßen steht, sondern auch demokratischen Gehversuchen am Hindukusch und in Nordafrika mehr als nur ein Bein stellt.
Um das zu beweisen, hat der Autor weit zurückgeblickt – und bei seinem Blick in die Geschichte entdeckt, dass sich Europa und die USA für ihre gegenwärtigen und künftigen Interventionsstrategien offensichtlich auf zwei französische Strategen berufen, deren Ideen dem Geist des Kolonialismus entsprangen: David Galula und Hubert Lyautey; beide lassen sich in den Handbüchern der NATO-Soldaten an prominenter Stelle finden.
Förderung der Demokratie mit dem Ziel der Dominanz
Galula betrat Neuland, als er 1956 in Algerien eintraf und im Namen der Vierten Republik dort für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Nicht wie der aufgrund seiner exzessiven Gewaltanwendung zu trauriger Berühmtheit gelangte Fallschirmoberst Marcel Bigeard wollte er sein Ziel erreichen, sondern durch einen Demokratisierungs- und Bildungsprozess und durch die Stärkung der Frauen sowie durch faire und freie Wahlen. Seine Waffen waren Stifte und Rechenschieber, Lehrer und Krankenschwestern.
Das Ganze hatte indes verheerende Folgen für die Bevölkerung, die aus reinem Pragmatismus mitmachte – und dadurch Gefahr lief von den Aufständischen bestraft zu werden. Und so blieb das Ziel Galulas das gleiche wie das von Bigeard: Dominanz. Auch Hubert Lyautey teilte es. Er setzte nicht darauf, das französische Weltbild in das Protektorat Marokko zwanghaft zu importieren, sondern wählte die Variante »sanfter Kolonialismus«, die der indirekten Herrschaft, bei der man mit den traditionellen Führern kooperierte.
Auf diese Art und Weise machte sich der Generalresident nicht die Hände schmutzig, sondern ließ die Stammesführer – brutal – walten. Heute findet man diese Strategie nicht nur in Afghanistan wieder, wo die NATO bereits seit Jahren mit zwielichtigen Warlords zusammenarbeitet, sondern auch in Nach-Gaddafi-Libyen.
Die NATO eine Gefahr für die Freiheit?
Ob, wie der Autor andeutet, dahinter ein beabsichtigtes Vorgehen steht, das ist diskussionswürdig. Geht doch Thörner so weit zu sagen, die gegenwärtig existierende Form eines extremen Islamismus sei kein Kind des Orients, sondern durch eine Tradition westöstlicher Anti-Aufklärung entstanden, die durch die militärischen Interventionen der NATO noch verstärkt würde, womit die Masterminds der Allianz eine Gefahr für Demokratie und Freiheit seien. Die von ihm in Libyen, Tunesien, Saudi-Arabien, Algerien, Marokko und Afghanistan sowie in europäischen Archiven zusammengetragenen Informationen bieten hierfür aber eine hervorragende Basis.
Die arabische Revolution und ihre Feinde
Marc Thörner
Nautilus Flugschrift, 2012
160 Seiten, 12,90 Euro