Lesezeit: 7 Minuten
Nahostkonflikt, Arabischer Frühling und Außenpolitik

Es geht um mehr als Gaza

Kommentar
von Emad Alali
Proteste gegen das Militär im Sudan
2019 mündeten die Proteste im Sudan im Sturz von Omar Al-Baschir. Ola A .Alsheikh / Wikimedia Commons

Was der Gazakrieg mit dem Arabischen Frühling zu tun hat und warum eine Deeskalation im Nahostkonflikt nur durch einen Perspektivwechsel gelingen kann.

Weder Israel noch die Hamas können die gezielte Tötung von Kindern, Frauen, Zivilbevölkerung insgesamt, rechtfertigen. Das Töten von Menschen ist keine Politik, sondern ein Verbrechen. Doch es fällt schon auf, dass man sich eben nicht bemüht, die konkreten Gegebenheiten, die die historische Entwicklung des Konflikts in den letzten zwei Jahrzehnten prägten, auf den Prüfstand zu stellen. Denn wenn wir die heutigen Umbrüche losgelöst von ihrem geschichtlichen Kontext betrachten, wird es schwierig, die Dimensionen der aktuellen Situation zu begreifen.

 

Gemeint ist hier die Beobachtung, dass die Hamas sich in den letzten Jahren zunehmend radikalisiert hat. Diese Radikalisierung ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Die Schwierigkeiten auf der innerstaatlichen Ebene mit der Fatah und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) sowie die Blockade des Gazastreifens durch Israel und Ägypten sind einige der Faktoren. Dass die Hamas 2006 die Wahlen gegen die Fatah gewann und dann die Regierungskoalition mit der Fatah wegen der damaligen Umwälzungen beendete, war ein Wendepunkt im gesamten politischen Kurs der Hamas.

 

Ein weiterer entscheidender Grund bleibt dennoch die Tatsache, dass die Hoffnung auf die Verwirklichung der Zwei-Staaten-Lösung im Laufe der Zeit drastisch abgenommen hat. Nicht zuletzt deshalb, weil Israel unter den Regierungen der letzten Jahre kein ernsthaftes Interesse daran zeigt. Mittels seiner Machtüberlegenheit versucht die derzeitige Regierung Netanyahu, die Existenz der palästinensischen Seite völlig zu ignorieren und die eigenen Absichten im Alleingang durchzusetzen.

 

Dieses Maß an militärischer und politischer Rücksichtslosigkeit öffnet einer Gewalteskalation ungeahnten Ausmaßes Tür und Tor

 

Es sollte daher nicht überraschen, dass diese Regierung nun nicht davor zurückschreckt, lautstark ihre Absicht zu verkünden, die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen zu vertreiben – ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht. Dieses Maß an militärischer und politischer Rücksichtslosigkeit öffnet einer Gewalteskalation ungeahnten Ausmaßes Tür und Tor. Entscheidungsträgern im Westen, die sich hoffentlich noch für Frieden im Nahen Osten einsetzen wollen, sollten sich der Konsequenzen der Geschehnisse in Gaza bewusst sein, um diese mögliche Katastrophe noch zu verhindern oder zumindest einzudämmen.

 

Mit jeder Entwicklung im Nahen Osten verhärtet sich der Eindruck, dass westliche Regierungen diese Region und ihre Besonderheiten nicht oder schlichtweg unvollständig verstanden haben. Das liegt daran, dass der Westen darauf beharrt, die Probleme, Umwälzungen und alle Zusammenhänge im Nahen Osten aus einem Eigeninteresse heraus zu betrachten. Der Eurozentrismus wird von der überwiegenden Mehrheit westlicher Wissenschaftler und Intellektuellen kritisiert, und trotzdem mit anderen Mitteln neu reproduziert.

 

Ich bin der festen Überzeugung, dass es grundsätzlich nicht die Aufgabe der westlichen Länder ist, sich für eine demokratische Transformation in den Ländern des Nahen Ostens einzusetzen. Das ist und bleibt die Verantwortung der arabischen Gesellschaften selbst. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass die westlichen Demokratien vor 2010/11 politische Reformen als Druckmittel auf die arabischen Führungen verwendeten. Und als die Bevölkerungen in einigen arabischen Ländern auf die Straßen gingen und eben solche Reformen einforderten, hat der Westen diese Bewegungen nicht wirksam unterstützt. Diese zurückhaltende Politik wird häufig mit strategischer Pragmatik begründet. Die Realpolitik behält die Oberhand mit dem Ergebnis, dass der Westen nun mit arabischen Herrschern, die ihre eigenen Bevölkerungen gewaltsam unterdrückten, auf gutem Fuß steht.

 

Dieses Maß an Unfreiheit ist unerträglich und kann auf Dauer keinen Bestand haben

 

Ich muss auf diesen Zusammenhang hinweisen, weil ich betonen will, dass sich die derzeitige Krise nicht auf den Gazastreifen beschränkt. Sie ist Teil einer umfassenderen Krise, die die gesamte Region betrifft. Die Menschen in Gaza, in Palästina und in allen arabischen Ländern haben erkannt und vielleicht am eigenen Leib erfahren, dass ihre Menschlichkeit mit Füßen getreten wird, dass ihre Menschenwürde eine Kugel wert ist, dass ihr Streben nach Freiheit entweder ins Grab oder bestenfalls ins Gefängnis führt. Dieses Maß an Unfreiheit ist unerträglich und kann auf Dauer keinen Bestand haben.

 

Deutschland und die westlichen Länder sollten daher erkennen, dass die Umwälzungen in der arabischen Welt in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass sich zunehmend der Diskurs verbreitet, die arabischen Regime seien nicht souverän, sondern eine Fortsetzung des westlichen Kolonialismus. Dabei handelt es sich nicht um eine Verschwörungstheorie, sondern um eine verstärkte öffentliche Wahrnehmung, dass der Kolonialismus indirekt durch die arabischen Führungen weiter besteht. Jeder, der beobachtet, was heute von in den sozialen Medien gepostet und veröffentlicht wird, kann sehen, dass diese Sichtweise in den Öffentlichkeiten der Region an Zulauf gewinnt.

 

Niemand würde bestreiten, dass der Tanz auf dem Vulkan nur noch mehr Zerstörung bringen wird. Die Hoffnung auf eine friedliche Beilegung des Konflikts schwindet. Dass die Sicherheit Israels für Deutschland Staatsräson ist, steht in keinem Widerspruch dazu, dass Stabilität im Nahen Osten ebenso Staatsräson ist oder sein sollte. Eine echte, langfristige Stabilität zu erreichen, setzt jedoch unter anderem die Abkehr von der bislang eindimensionalen Politik vor. Deutschland wird in Teilen der arabischen Welt durchaus als Vorbild für die Achtung der Menschenrechte und den Schutz der Presse- und der Meinungsfreiheit gesehen. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Umgang der Bundesregierung mit dem Gazakrieg dieses Ansehen in Frage stellt.


Dr. Emad Alali ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin (FU).

Von: 
Emad Alali

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