Lesezeit: 9 Minuten
Rezension »Islam und Muslime Religion und Politik« von Alexander Flores

Ohne Schaum vor dem Mund

Feature
Rezension »Islam und Muslime Religion und Politik« von Alexander Flores
Illustration aus dem Manuskript »Tuhfat al-Muluk« von Ja'far Kashfi aus dem 19. Jahrhundert

Viel Meinung – wenig Ahnung, entlang dieser Koordinaten laufen Islamdebatten in Deutschland häufig ab. Nahosthistoriker Alexander Flores möchte für Klarheit sorgen und irrigen Annahmen entgegenwirken. Ob ihm das gelingt?

Der Titel verrät es bereits und doch mag man sich fragen: Noch ein Überblickswerk zum Islam? Noch ein Autor, der sich abmüht, einer breiten Masse den Islam erklären zu wollen? Alexander Flores, Soziologe, Germanist, Islamwissenschaftler und Arabist, der seit 1995 als Professor für Wirtschaftsarabistik an der Hochschule Bremen lehrt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, noch einmal da anzusetzen, wo Gudrun Krämer und Thomas Bauer aufgehört haben. Was einem angehenden Islamwissenschaftsstudenten schon in der ersten Vorlesung nach der Lektüre der Standardwerke eingetrichtert wird, hebt Flores noch einmal mit besonderem Nachdruck hervor: »Es gibt nicht den Islam«.

 

Das Buch, das in diesem April beim Verlag Westfälisches Dampfboot erschien, plädiert für eine Fokussierung auf Diversität sowie den großen Handlungsspielraum, den Musliminnen und Muslime in ihrer religiösen und politischen Lebensgestaltung zur Verfügung haben, denn »die Vorstellung von einem monolithischen, unwandelbaren, alles bestimmenden Islam« ist laut Flores »völlig falsch«.

 

»Islam und Muslime - Religion und Politik« ist eine Sammlung von verschiedenen Beiträgen, die bereits veröffentlicht wurden und nun noch einmal überarbeitet den Weg in die Öffentlichkeit finden. Es scheint, als wolle Flores noch einmal betonen, was schon längst erforscht ist und seinen Erkenntnissen noch einmal besonderen Nachdruck verleihen. Die scheinbare Unvereinbarkeit von Islam und Westen ist immer noch präsent in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit. Gerade erst flammten diese Debatten im Kontext der Koranverbrennung in Schweden auf und auch mit Blick auf die jüngsten Proteste und Krawalle in Frankreich wird klar: Fragen rund um Rassismus, Ausländer- und Islamfeindlichkeit können eine derart ruhige und unaufgeregte Einordnung besser denn je vertragen.

 

Hinter den meisten der Kapitelüberschriften steht ein Fragezeichen – es steht symbolisch für das aktive Infragestellen

 

Flores՚ Themenauswahl setzt genau dort an: Westen und Islam, Auslegungsformen des Korans, innermuslimische Debatten, politischer Islam, muslimischer Umgang mit Andersgläubigen und weshalb man die Situation von Minderheiten wie zum Beispiel im Libanon nicht auf den Islam zurückführen kann. Hinter den meisten der Kapitelüberschriften steht ein Fragezeichen – es steht symbolisch für das aktive Infragestellen vorgefertigter Annahmen und gegenwärtiger Ressentiments. Was Flores dabei besonders gut gelingt, ist die durchgehende Unterscheidung zwischen Islam und Muslimen, also der Religion und ihrer religiösen Grundlagendokumente sowie der menschlichen Akteure selbst, die diese Quellen interpretieren, diskutieren und oft sehr unterschiedlich auslegen.

 

Ein starkes Beispiel findet sich im Kapitel über Säkularismus und Modernitätsdiskurse. Für Flores persönlich ein »ganz wichtiges Themenfeld«. Für diejenigen, die bereits mit der Materie vertraut sind, birgt dieses Kapitel einige interessante und möglicherweise auch neue Erkenntnisse, wie beispielsweise in der Herausarbeitung der »Immanenten Säkularität«. Darunter versteht man die Tatsache, dass ein klassisches Verständnis der Trennung von religiös und säkular in islamischen Kontexten so nie existierte und auch heute nicht so klar auszumachen ist.

 

Der Grund: Die Geschichte des Islams ist nicht die einer Minderheitenreligion im bereits existierenden staatlichen Kontext (wie etwa das Christentum im Römischen Reich). Es gab keine religiösen Institutionen, die sich vor den staatlichen behaupten mussten und die dann wieder von diesen getrennt werden sollten. Muslimische Reformer, Radikale und Modernisierungsbefürworter verfolgten in diesem Kontext allesamt unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe, die bis heute nicht endgültig ausgehandelt sind.

 

Zugegeben: Für ein fachfremdes Publikum ist das keine leichte Kost und Flores tut sich auch schwer darin, komplexe Themenfelder in verständlicher Manier zu durchdringen. Lange Blockzitate und das Fehlen von Bildern, Karten oder sonstigen Grafiken, sowie Verweise auf vorwiegend Fachliteratur lassen ungeschulte Leser wohl oft orientierungslos zurück. An anderen Stellen, wie beispielsweise dem Kapitel über Islamismus, gelingt dies besser. Schwer und leicht verständliche Passagen wechseln sich ab. »Ich habe mit dem Buch kein ganz spezielles Publikum im Auge«, entgegnet der Autor auf Nachfrage.

 

Thema, These, Kontext, Bilanz, Gegenrede, Selbstkritik und die wichtigste Frage am Schluss: Was ist zu tun?

 

Generell kann man Flores die leserfreundliche Strukturierung seiner Kapitel zugutehalten, die dem komplexen und trockenen Inhalt entgegenwirkt. Die Abschnitte treten in direkte Interaktion mit dem Leser: Thema, These, Kontext, Bilanz, Gegenrede, Selbstkritik und die wichtigste Frage am Schluss: Was ist zu tun? Flores verliert sich nicht in historischen Abhandlungen, sondern schafft es auf intelligente Art und Weise, unter Einbezug von wichtigen historischen Entwicklungen in islamischer Geschichte, die für die Gegenwart relevanten Aspekte und Phänomene zu beschreiben. Das Auftreten Europas und seine Folgen für muslimische Gesellschaften finden in Flores՚ Werk daher an den richtigen Stellen Erwähnung und dürften auch die Edward-Said-Fans beruhigen. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei der Maxime Rodinson (1915-2004) ein, dem am Schluss gar ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

 

Die Besonderheit dieses Buches liegt jedoch zweifellos darin, kein rein historisches Überblickswerk oder eine emotional aufgeladener Debattenbeitrag à la »Gehört der Islam zu Deutschland?« sein zu wollen, sondern mit wissenschaftlich fundierten Hintergrundinformationen ein Überblickswerk aufzuziehen, das nicht vom Islam auf Muslime, sondern von Muslimen, Musliminnen und ihrer Handlungsmacht zum Islam schließt. Flores hätte sich in all der Betonung von innerislamischer Diversität trotzdem noch gut daran getan, den Sufismus und spirituelle islamische Strömungen zu thematisieren, da diese bekanntlich in besonderer Weise aufzeigen, welche Vielfalt die religiöse Praxis im Islam bergen kann.

 

Das Buch bringt also keine bahnbrechenden oder originellen Erkenntnisse – zumindest für geschulte Leser. Es kann vielmehr als eine pragmatische Sammlung von Wissen und Herangehensweisen an Fragestellungen verstanden werden, die grundlegend für jeden Islamdiskurs sein sollten. »Islam und Muslime - Religion und Politik« ist ein solides Grundlagenwerk, das sich in logischer Reihenfolge den Fragen stellt, die wohl bei jedem aufkommen, der sich gegenwärtig mit muslimischen Gesellschaften beschäftigt. Öffentliche und private Diskussionen über »den Islam« würden wohl produktiver ablaufen, wenn all diese Menschen Bücher wie dieses tatsächlich lesen würden.



Rezension »Islam und Muslime Religion und Politik« von Alexander Flores

»Islam und Muslime - Religion und Politik«
Alexander Flores
Verlag Westfälisches Dampfboot, 2023
225 Seiten, 25 Euro

Von: 
Sophia Hiss

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.