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Die EU und Flucht aus Syrien

Europa muss dem Libanon unter die Arme greifen

Kommentar

Libanons Regierung sucht Strategien, um die Einreise aus Syrien zu kontrollieren, die Aufnahmekapazitäten des Landes sind erschöpft. Die EU muss ihre Kontingente für syrische Flüchtlinge erhöhen und den Libanon spürbar entlasten.

Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland soll der Flüchtlingsstatus entzogen werden, wenn sie nach Syrien reisen. Das kündigte der libanesische Innenminister Nouhad Machnouk Anfang Juni 2014 an. Zuvor hatte Baschar Al-Assad gedroht, wer nicht bei den syrischen Präsidentenwahlen abstimme, dürfe nicht wieder nach Syrien einreisen. Diese Drohung brachte zehntausende Syrer dazu, in der syrischen Botschaft in Beirut an den Wahlen teilzunehmen. Inwiefern die Machtdemonstration Assads diese Ankündigung der libanesischen Regierung provozierte, ist unklar.

 

Klar ist aber, dass sie sich in eine Reihe von gesellschaftlichen und politischen Verschärfungen gegenüber den Flüchtlingen aus Syrien einreiht. Libanesische Politiker denken fast täglich laut darüber nach, wie die Zahl der Syrien-Flüchtlinge begrenzt werden könnte. Mitte April 2014 räsonierte der ehemalige Premierminister Najib Mikati: »Der Libanon sollte sofort aufhören, weitere syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Wir sollten ab heute keinen einzigen Flüchtling mehr ins Land lassen.« 

 

Weiter beklagte er, dass die versprochene internationale Hilfe nicht im Libanon angekommen sei und plädierte für Flüchtlingslager in Grenznähe und innerhalb Syriens. Der Minister für Soziales, Rashid Derbas, ist ebenfalls für die Errichtung von Lagern innerhalb Syriens und meint: »Die Flüchtlinge leben hier unter unmenschlichen Bedingungen und daher begannen wir darüber nachzudenken, dass es in Syrien sichere Gegenden gibt.«  Derselbe Minister präsentierte ein paar Tage später eine weitere Idee: Nur wer aus einer Gegend Syriens kommt, die in der Nähe der libanesischen Grenze liegt, solle in den Libanon fliehen dürfen.

 

Dass der Ruf nach einer härteren Gangart durchaus schnell in die Tat umgesetzt werden kann, demonstrierten die libanesischen Behörden, als sie Anfang Mai knapp 40 palästinensische Flüchtlinge aus Syrien an der Ausreise in ein Drittland hinderten und nach Syrien abschoben. Zudem wird palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien seit Anfang Mai die Einreise verweigert.

 

Eine Verschärfung der Einreisebestimmungen führt allerdings nicht nur zu weniger Einreisen sondern auch zu weniger Ausreisen. Der palästinensisch-syrische Maher aus Damaskus etwa fuhr oftmals für ein paar Wochen zum Arbeiten in den Libanon. Jetzt ist die Aufenthaltsgenehmigung des 30-Jährigen im Libanon abgelaufen. »Es ist mir zu riskant, zu den Behörden zu gehen, um eine Verlängerung zu beantragen. Nach Syrien kann ich in der aktuellen Lage auch nicht reisen, denn dann komme ich womöglich nicht wieder in den Libanon.«

 

Die Reaktionen der libanesischen Politik reflektieren die Überforderung des Landes. Der Libanon ist das am stärksten vom Krieg in Syrien betroffenen Nachbarland. Mit einer eigenen Einwohnerzahl von circa 4,5 Millionen hat der Libanon knapp 1,1 Millionen Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland aufgenommen. Allein im Mai 2014 gab es 44.000 Neuregistrierungen. Die Zahl der nicht registrierten Flüchtlinge ist unbekannt; schätzungsweise handelt es sich aber um mehrere Hunderttausend. Bisher können syrische Staatsangehörige visafrei einreisen.

 

Die Solidarität und Aufnahmebereitschaft der libanesischen Gesellschaft sind groß. Teilweise liegt das an Verwandtschaftsbeziehungen und politischen Allianzen über die Grenze hinweg sowie daran, dass viele Libanesen selbst schon einmal Zuflucht in Syrien gefunden hatten. Die gesellschaftlichen Spannungen nehmen allerdings mit der Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt stark zu. Auch die Wirtschaft ist durch den Krieg in Syrien stark beeinträchtigt. Nach Angaben der Weltbank und des libanesischen »National Poverty Targeting Program« sind seit Beginn des Krieges in Syrien viele Libanesen in die Armut abgerutscht.

 

Besonders in weniger gut bezahlten Jobs kommt Konkurrenz auf. Syrische Flüchtlinge sind bereit beziehungsweise gezwungen, für Hungerlöhne zu arbeiten. Umgekehrt spüren viele Flüchtlinge, dass sie bei der Arbeitssuche zunehmend Diskriminierung ausgesetzt sind. Das ohnehin sehr fragile Gleichgewicht der libanesischen Gesellschaft wird auf eine neue Zerreißprobe gestellt. Der Libanon ist auf internationale Unterstützung angewiesen. Staatliche Institutionen sind nur schwach entwickelt.

 

Die Dichte von verschiedensten humanitären Organisationen ist sehr groß, sie haben gewichtigen Einfluss auf die Flüchtlingspolitik des Landes. Obwohl viel Geld in den humanitären Sektor fließt, reicht es nicht, um den Bedarf zu decken. Im vierten Jahr des Konfliktes beraten die humanitären Organisationen nun, wie sie ihre Arbeit mehr von Notfallversorgung hin zu längerfristig angelegten Entwicklungsprojekten orientieren können. Es sollen Zukunftsperspektiven für die Flüchtlinge in ihren Zufluchtsländern entstehen.

 

Dabei wird in nationale Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Bildung und ökonomische Entwicklung investiert. Staatliche Institutionen und vor allem die lokale Ebene der Kommunen sollen unterstützt werden.  Dies soll die Aufnahmekapazitäten des Landes stärken und Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Flüchtlingen mindern.

 

Die EU hat bisher weniger als 20.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge aus Syrien bereitgestellt – 14 Mitgliedsländer keinen einzigen

 

Ende Mai machte sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei einem zweitägigen Besuch im Libanon ein Bild von der Lage der Flüchtlinge. Er besuchte eines der vielen kleinen informellen Flüchtlingslager und sagte im Anschluss zusätzliche 5 Millionen Euro humanitäre Hilfe für den Libanon zu. Außerdem kündigte er an, dass Deutschland noch einmal ein Kontingent von 10.000 Flüchtlingen aufnehme. Das Auswärtige Amt korrigierte diese Aussage Steinmeiers umgehend.

 

Trotz aller Irritationen um ein neues Aufnahmeprogramm ist allerdings zu erwarten, dass ein entsprechender Beschluss bei der Innenministerkonferenz am 12./13. Juni in Bonn zu Stande kommt. Den Bundesländern liegen für das aktuell laufende zweite Bundesprogramm zur Aufnahme von Syrien-Flüchtlingen bereits Anträge von 76.000 Menschen vor, für die in Deutschland lebende Angehörige um Einreiseerlaubnis bitten – 5.000 Plätze stehen aber nur zur Verfügung. Auch eine weitere Aufstockung um 10.000 Plätze durch die Innenminister wäre nur eine äußerst geringfügige Verbesserung.

 

Die Evangelische Kirche in Deutschland und Pro Asyl fordern eine zügige und unbürokratische Aufnahme aller knapp 80.000 Familienmitglieder, für die bereist Antragsverfahren laufen. Schaut man nach Europa, fällt die Aufnahmebereitschaft sehr gering aus. Insgesamt hat die EU der 28 bisher weniger als 20.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge aus Syrien bereitgestellt – 14 Mitgliedsländer keinen einzigen. Solche Aufnahmeaktionen werden im Libanon sehr genau wahrgenommen, zumal sonstige Fluchtwege nach Europa systematisch verschlossen werden.

 

Im vergangenen Jahr sind knapp 1.000 Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ums Leben gekommen. Seit Sommer 2012 gehören syrische Flüchtlinge zur Hauptopfergruppe. Im März machte sich auch der 24-jährige Khaldoun aus Damaskus auf den Weg Richtung Europa. Er hatte in Damaskus sein Bachelorstudium abgeschlossen. Als er danach zur Armee sollte, floh er in den Libanon. Dort teilte er sich in Beirut mit einem Freund ein Zimmer, meinte aber: »Im Libanon fühle ich mich gefangen. Ich habe hier praktisch keine Chancen, mir ein Masterstudium zu finanzieren.

 

Außerdem fühle ich mich unsicher, ich habe Angst, dass die Situation hier noch weiter eskaliert.« Khaldoun saß viel daheim und chattete mit seinen weitversprengten syrischen Freunden. Eines Tages war er weg. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in Istanbul trat er die Weiterflucht nach Europa an. Bei einem ersten Versuch überquerte er zwar erfolgreich den Grenzfluss Evros, wurde aber im Wald von den griechischen Behörden aufgegriffen und zurückgeschoben. Beim zweiten Versuch gelang es ihm und seinen Weggefährten, auf griechischem Boden angekommen, sich telefonisch über den griechischen Flüchtlingsrat zu registrieren. So gelang es ihnen, einer menschenrechtswidrigen Zurückweisung zu entgehen. Mittlerweile ist er in Athen und plant von dort nach Schweden weiter zu reisen.

 

»Aus Athen wegzukommen ist viel schwieriger als aus Italien«

 

Auch Muhannad führte die Flucht von Syrien nach Europa über den Libanon. Allerdings war er nur kurz auf der Durchreise in Beirut, um von dort nach Algerien zu fliegen. Von dort will er weiter nach Libyen, um dann die lebensgefährliche Reise nach Italien anzutreten. Sein Ziel ist Deutschland oder die Niederlande. Sein größter Wunsch ist, dann seine Frau und die beiden Kinder nachzuholen. Auf die Frage ob er ausgerechnet diesen gefährlichen Weg übers Mittelmeer wählen muss, entgegnet er: »Aus Athen wegzukommen ist viel schwieriger als aus Italien.« Die reguläre Visavergabe für syrische Staatsangehörige ist stark eingeschränkt.

 

Wo vor dem Krieg ein Besuch in Deutschland auf Einladung von Verwandten oder Bekannten noch möglich war, ist es seit Beginn des Krieges nahezu unmöglich geworden, ein normales Besuchervisum beziehungsweise auch ein Visum für Studium oder Arbeit zu erhalten. Trotz schwieriger Perspektiven in der Region ist für viele eine Weiterflucht nach Europa keine Option. Der syrische Künstler Rabee Kiwan meint etwa: »Eigentlich will ich gar nicht aus dem Libanon weg. Ich selbst kann nicht mehr in Syrien leben, aber meine Eltern sind dort und mir ist es wichtig, dass wir uns sehen können.«

 

Vor ein paar Monaten wurde er für eine Ausstellung nach Italien eingeladen. Die Schwierigkeit ein Visum zu erhalten, veranlasste ihn dazu, Reisepässe als Motiv in seine Malerei aufzunehmen. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sieht vor, dass bei einer Rückkehr ins Herkunftsland der Flüchtlingsstatus erlischt. Libanon hat die GFK nicht ratifiziert, bezieht sich nun aber mit der Ankündigung, Flüchtlingen bei einer Reise nach Syrien den Flüchtlingsstatus zu entziehen, zum ersten Mal darauf. Um registrierten Flüchtlingen bei einer Rückreise nach Syrien den Status zu entziehen, wären die Behörden auf die Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) angewiesen.

 

Das UNHCR wandte sich allerdings gegen dieses Vorhaben und erklärte: »Manche Syrer fahren kurz in ihr Heimatland, um Dokumente zu erneuern, nach Familienmitgliedern oder Besitz zu schauen und auch um die Situation für eine eventuelle Rückkehr zu prüfen.«  Der Libanon steht an einem gefährlichen Wendepunkt. Würde das Land auch seine Grenzen für Schutzsuchende schließen, dann wäre das fatal. Um dies zu verhindern, bedarf es auch europäischer und deutscher Solidarität. Humanitäre Hilfe und Flüchtlingsaufnahmeprogramme sind wichtig, reichen in dem bisherigen Ausmaß aber nicht aus. Stattdessen sind Ansätze für mehr Investitionen in die Entwicklung der lokalen Aufnahmekapazitäten notwendig.

 

Um die libanesische Regierung jedoch davon zu überzeugen, die Grenzen für syrische Flüchtlinge offenzuhalten, müsste Europa bereit sein, Fluchtwege zu öffnen. Dem kleinen Libanon zuzurufen »Haltet Eure Grenzen auf!« und gleichzeitig die europäischen Grenzen zu schließen, ist beschämend. Europa muss seine Aufnahmeplätze für syrische Flüchtlinge signifikant erhöhen und dabei auch den Libanon spürbar entlasten.

 

Für junge Studierende aus Syrien sollten in der EU vielfältige Stipendienprogramme aufgelegt werden und die erweiterte Familienzusammenführung zu den syrischen Communities in Deutschland, Schweden und anderswo unbürokratisch ermöglicht werden. Mehr internationale Solidarität – vor Ort und bei der Flüchtlingsaufnahme in Europa – wäre das Gebot der Stunde, um die täglich größer werdenden Spannungen im Libanon zu mindern.

Von: 
Susanne Schmelter

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