Bonbonfarbene arabische Nächte, endlos auf- und absteigende Arabesken in Moll – und Münchner Exportbier in Babylon: Die Orient-Reise des John Dos Passos aus dem Jahr 1921 ist fast fantastisch. Nun liegt das Werk erstmals auf Deutsch vor.
Der alte Ford »hüpft und keucht wie ein Hund auf drei Beinen«. Endlich: die iranisch-irakische Grenze. Schließlich: Bagdad. Der Reisende ist angekommen, hat das »dumpfe Getrommel und den rauen atemlosen Ruf ›Hassan, Hossein, Hassan, Hossein‹« der Aschura-Prozessionen von Teheran hinter sich gelassen; die safrangelben oder karminroten Bärte und deren »alte und schwache und würdevolle Kultur« ebenso wie die milchigen Melonen mit leichtem Mandelgeschmack.
Stattdessen: Pommes Frites am Tigris-Ufer, anschließend ein Ausflug ins biblische Babylon, »schweißgebadet und mit staubvollem Mund«, die Propheten Jeremias und Jesaja im Kopf zitierend, dann das Wunder: eine Flasche Münchner Exportbier wird mit Datteln im Schatten der Palme gereicht. Oh wie schön ist Babylon. Dies ist die Reise des John Dos Passos, packend geschrieben vor rund neunzig Jahren im Iran, dem Irak, Syrien, Armenien sowie Georgien.
Im kaukasischen Armenhaus
Es wird das letzte sein, für sieben Wochen. Die Reise geht weiter, mit einer Karawane auf dem Rücken des Dromedars Malek durch die syrische Wüste und deren »bonbonfarbene arabische Nächte« bis nach Damaskus. Fern sind die grauenhaften Bilder aus dem kaukasischen Armenhaus jener Jahre, dem armenischen Eriwan, wo »halbnackte Kinder mit eingefallenen Wangen und aufgedunsenen Hungerbäuchen kauern wie verwundete Tiere«.
Ebenso die Erinnerungen an das vom Grauen des Bolschewismus heimgesuchte georgische Tiflis, wo »täglich zwanzig Personen an Cholera, vierzig an Typhus« sterben. Dorthin war der Schnellzug gekommen, der sich »langsam durch den üppigen jade- und smaragdgrünen Dschungel der Schwarzmeerküste« von Konstantinopel entfernt hatte.
Opalweißer Ouzo auf dem Taksim-Platz
Jenem Stambul, wo Minarette »wie Elfenbeinstifte auf einem Cribbage-Brett« stehen, auf dem Taksim-Platz opalweißer Ouzo gereicht wird, Musiker »endlos auf- und absteigende Arabesken in Moll« zupfen und summen und ein Geistlicher »ein Gebet voller harter Konsonanten und kühn aufsteigender Satzmelodien« spricht. Die Metropole am Bosporus, wo abends der »schrecklich blutorangene Mond Asiens« untergeht, war der Ausgangspunkt für die Reise des weltberühmten amerikanischen Schriftstellers John Dos Passos, der mit Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald zur »Lost Generation« der amerikanischen Literatur gehört.
Nun liegt sein literarisches Meisterwerk erstmals auf Deutsch vor und ist nicht nur so dicht, spannend und genau geschrieben, das man gleich von neuem beginnt, jede Zeile und jeden Satz zu lesen, um ein weiteres wunderbares Wortspiel oder einen Satz von besonderer sprachlicher Schönheit zu finden, das beim ersten Lesen fataler Weise im Dickicht der Sätze verborgen geblieben war. Nein, die »literarische Live-Reportage«, wie Stefan Weidner das Werk in seinem sachkundigen Nachwort nennt, ist auch darum bemüht, die Vorgänge jener Zeit zu erfassen. Die Welt war noch nicht abgekühlt vom Feuer der Schlachten rund um den Globus. Und John Dos Passos beschreibt die Folgen, die er während seiner Reise persönlich sieht und erlebt.
Dos Passos ist Chronist einer Zeitenwende
Angefangen vom Versuch der im schleichenden Niedergang begriffenen Kolonialmächte Frankreich und England, die Region unter sich aufzuteilen über die bolschewistischen Gewalt- und Hungerorgien im Kaukasus und das Ringen um Freiheit und Macht der autochthonen Bevölkerungen des Orients bis hin zum Genozid an den Armeniern und dem türkisch-griechischen Krieg. Kurz: Eine alte Welt war untergegangen, John Dos Passos bereiste jene neue, die, in ein nationalistisches Gewand gehüllt, vage im Entstehen begriffen war. Ex Oriente Lux. Er ist der Chronist dieser Zeitenwende. Und was für einer.
Orient-Express
John Dos Passos
Nagel & Kimche, 2013
203 Seiten, 18,90 Euro