Lesezeit: 8 Minuten
Die Stadt der lebenden Toten

Die Stadt der lebenden Toten

Feature
von Hend Taher

Für wen sogar eine Wohnung in den Slums von Kairo zu teuer ist, dem bleibt nur der Friedhof. Zwischen Grabhäusern in der Wüste leben laut inoffizieller Statistik mittlerweile bereits anderthalb Millionen Menschen.

Von der Schnellstraße aus erscheint der isolierte Stadtteil ordentlich, fast tot. Die Hauptstraße ist zugeparkt mit Autos. An den Ecken der großen historischen Mausoleen stehen einige Straßenstände, Werkstätten, kleine Läden und Cafés. Hier rauchen Männer Wasserpfeife, spielen Domino und trinken Tee. Durch die offenen Tore der Grabhäuser sieht man Frauen, die miteinander essen und sich dabei unterhalten. Auf den sandigen Nebenstraßen spielen die Kinder barfuß unter den kleinen, einfachen Grabräumen. Hühner und Enten fressen vom Boden, Hunde streunen herum, und ein Billardtisch ohne Zubehör steht auf der Straße.

 

Über Jahrhunderte beherbergten die Häuser der Kairoer Wüste nur die Toten – erbaut für das Leben im Jenseits. Heute siedeln zwischen ihren Gräbern die Ärmsten der Armen aus ganz Ägypten, die sich zwischen den Häusern der Toten eine neue Heimat geschaffen haben. In der Sonne sitzt eine Gruppe auf Plastikstühlen vor einem großen Grab. Es ist die Familie von Nafisa, einer alten einäugigen Frau mit einem freundlichen Lächeln. Sie trägt eine alte, abgetragene Galabija, die weiten Ärmel sind hochkrempelt, das Kopftuch bedeckt nur ihr Haar.

 

Der Grabraum, in dem Nafisas Familie lebt, ist in zwei Hälften geteilt: Ein Gang, indem sich Nafisa die meiste Zeit aufhält und ein Hof, ohne Dach und mit wenigen Pflanzen. Das Grab steht auf der rechten Seite, direkt vor einem winzigen Schlafzimmer. Auf der linken Seite vom Grab stehen mehrere Türen nebeneinander. Ein Badezimmer, ohne Toilette, nur ein Loch im Boden. Das Wasser läuft aus einem Zapfhahn in Bodennähe. Die Küche ist ein fast leerer, kleiner, dunkler Raum.

 

Da es auf dem gesamten Friedhof keine Elektrizität gibt, behilft sich die Familie mit einem Gaskocher auf dem Fußboden. Ein Wasserschlauch hängt von der Decke, da der Raum gleichzeitig als Dusche genutzt wird. Ein dritter Raum wird als Lagerraum genutzt, jedoch nur von dem Besitzer des Friedhofs, sagt Nafisa. Neben dem Ausgang steht eine weitere Tür. »Das ist ein modernes Badezimmer mit Toilette«, erklärt die alte Frau verschämt. »Aber die ist nicht für uns. Die Friedhofsbesitzer nutzen sie, wenn sie herkommen.«

 

Nafisa ist auf dem Friedhof geboren und aufgewachsen. Ihr Geburtsdatum kennt sie nicht. Nach dem Tod ihrer Eltern hat sie einen Kurier geheiratet, der auch auf dem Friedhof wohnt. Sie bekamen drei Kinder: die Tochter und der ältere Sohn sind verheiratet, der jüngste Sohn sitzt im Gefängnis. »Er war böse. Seit zwei Jahren hat er Probleme gemacht und jemand starb«, schüttelt Nafisa traurig den Kopf. All das habe ihrem Ruf geschadet, sagt sie. Nafisas Ehemann ist alt und kann nicht mehr arbeiten.

 

Er bekommt weder Rente von der Regierung noch Gesundheitsfürsorge. Sie selbst verkauft Zuckerrohr und bekommt ab und zu finanzielle Hilfe von ihrem Sohn und ihrer Tochter. Etwas Geld erhält Nafisa, wenn die Besitzer des Grabhauses zu Besuch kommen oder jemand zu begraben ist. Ihr einziger Wunsch sei es, sagt sie, den Friedhof zu verlassen und in einer Wohnung zu leben. Allein wird sie das jedoch nicht schaffen können. Und so erzählt sie jedem ihre Geschichte mit der Hoffnung, dass sich etwas verändert. Bis heute wächst die Stadt der Toten unaufhaltsam an. Inoffiziell sollen momentan eineinhalb Millionen zwischen den Gräbern leben. Migranten aus dem Kairoer Umland suchen Zuflucht auf den Friedhöfen. Doch auch Kairener, die die Kosten für die Miete in Slums nicht aufbringen können, kommen hierher.

 

Eine Wohnung, irgendeine Wohnung

 

»Ich bin gezwungen, hier zu wohnen«, sagt Halima. Die alte, dünne Frau wäscht ihre Kleidung in großen Eimern. Das Wasser kommt aus einer Leitung, die von innen aus dem einfachen Grabraum herauskommt. Sie wäscht draußen, so dass das Wasser auf die sandigen Straßen fließt und einfach trocknet. Ihre Kleider hängt sie anschließend auf Leinen auf, die quer über die Straße gespannt sind. Halima lebt gemeinsam mit ihrem geschiedenen Sohn in der Gräberstadt.

 

Anstatt einer Toilette benutzten sie eine »Transch«, eine Art geschlossenes Gefäß mit einem Loch obenauf, das Halima regelmäßig entleeren muss. »Wir begraben alles weit weg«, sagt sie. Zumindest Strom habe sie, das gab der Besitzer des Friedhofes vor vielen Jahren in Auftrag. »Ich habe die letzten Monate nicht bezahlt. Ich hoffe, mir wird der Strom nicht gesperrt«, sagt Halima. Das Leben auf dem Friedhof ist ruhig. Ganz anders als im restlichen Kairo, wo Smog und Hochhäuser das Stadtbild bestimmten.

 

Es gibt saubere Luft und sogar Bäume. »Die hat ein Mann hier gepflanzt, weil ihr Sohn hier begraben wurde«, erzählt Halima. »Der schönste Baum wurde aber gestohlen.« Mit 15 Jahren heiratete Halima in ein armes Dorf ein. Anschließend zog sie mit ihrem Mann in die Gräberstadt. Das war vor dreißig Jahren. Halimas Mann besaß einen kleinen Kiosk. Nach neunzehn Jahren Ehe starb er plötzlich. Halima stand allein da mit drei Kindern. »Nun muss ich arbeiten, um meine Kinder zu ernähren«, klagt sie.

 

Über ihre Arbeit spricht Hamila nicht, jedoch arbeiten viele der Frauen als Putzkraft, um so den Unterhalt für sich und die Familie bestreiten. Zusätzlich zu ihrer Arbeit erhält Halima eine Rentevon 320 Pfund pro Monat, außerdem bezieht sie finanzielle Hilfe vom Al-Azhar-Institut. Sie schaut nach oben auf das illegale Wohngebäude, das zwischen den Gräbern liegt. »Finanziell bin ich nicht so gut aufgestellt wie diese Leute«, weiß sie. Doch auch wenn sie es wäre, sie erlauben keine Fremden in diesem Viertel, berichtet Halima. »Ich will nur eine Wohnung. Irgendeine Wohnung, vor allem für meinen Sohn. Ich bin alt und nicht mehr so wichtig.«

 

Ein Obdach für Kriminelle und Drogen-Dealer

 

Eine kleine Wohnung das hat der selbstständiger Käfig-Hersteller Ashoor. Mit seiner Familie wohnt er in Al-Deweka, einem illegalen Slum. Er schämt er sich, sie zu zeigen: »Ich habe einfach keine andere Wahl, als dort zu leben.« Für seine Arbeit mietet sich der 43-Jährige zwanzig Minuten entfernt von seiner Wohnung, auf dem Friedhof ein – für achtzig Pfund monatlich. Dort hat er Stoff über Stangen gespannt, die in die Erde hineingesteckt werden.

 

Eine Art Hütte aus Stoff. Oft kommt er mit seiner Frau und Kind zu Fuß hierher. »Wenn wir viel arbeiten, können wir uns den Minibus für zwei Pfund auf dem Heimweg leisten, da unser Baby schnell müde wird«, sagt er. Seine Frau begleitet ihn, um ihm Tee oder Essen zuzubereiten. Ashoor schaut sie mit einem verliebten Lächeln an und erzählt, dass sie sich sorgen um einander machen. Die Friedhofsmauern seien ein Obdach für Kriminelle und Drogen-Dealer. Einmal, vor zweieinhalb Jahren, habe ein Drogenkonsument eine Person im Streit umgebracht.

 

Doch egal, was er erlebt, er dürfe nichts sagen: »Wenn du der Polizei etwas über jemanden erzählst, erfahren das die Leute hier. Das bringt nur Probleme.« Für sich und seine Familie wünscht sich Ashoor eine eigene Werkstatt und eine angemessene Wohnung. Das scheint im Moment jedoch unmöglich: »Alles wird immer teurer«, sagt er. »Eintausend Palmwedel kosteten vor der Revolution 300 Pfund, jetzt bezahle ich 1.300 Pfund dafür«. Sein Wunsch für die Zukunft seines ältesten Sohnes klingt simpel: »Er soll nicht so werden wie ich. Er soll seine Ausbildung abschließen und einen festen Job haben.«

 

Ashoor ist selbstständig. Wenn er heute krank werden würde, bekäme er keine Betreuung. »Die Regierung kümmert sich überhaupt nicht um uns«, sagt er. Ashoor hat alle seine fünf Kinder zur Schule geschickt. Fast alle haben die Schule freiwillig verlassen – außer seinem kleinen Mädchen.

Von: 
Hend Taher

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.