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Dink, Diaspora und Dickköpfe

Armenien, Türkei und der Fall Hrant Dink

Feature

Was haben die Proteste in der Türkei und die mögliche Wiederaufnahme des Mordfalls Hrant Dink miteinander zu tun? Einiges, denn Armenier und Türken beginnen langsam, die autoritäre Tradition des gegenseitigen Hasses zu hinterfragen.

Hrant Dink ist tot. Er wurde erschossen, von hinten, in den Kopf, mit mehreren Schüssen, von einem 17-Jährigen. »Ich habe den Ungläubigen erschossen«, soll Ogün Samast nach der Tat stolz gerufen haben. Der türkische Begriff für »Gavur – Ungläubiger«, ist in der Geschichte der Diskriminierung gegen die Armenier bereits stark vorbelastet und extrem abwertend. Dink, ein Armenier türkischer Staatsbürgerschaft, musste im Januar 2007 sterben, weil er offen heikle Themen angesprochen hatte. »Die Armenier in der Türkei leiden unter einem tiefen Trauma – beinah ein klinischer Fall. Die Türken leben in einer Paranoia – beides ist nicht gesund. Beides führt uns nicht zu einer Lösung. Beide Patienten müssen eine Therapie durchlaufen«, sagte er 2004, drei Jahre vor seiner Ermordung.

 

Dink war Mitbegründer und Chefredakteur der zweisprachigen, armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos. Zwar wurden bereits früher armenischsprachige Zeitungen in Istanbul verlegt – die jüngere, armenische Generation jedoch ist der Sprache heute meist nicht mehr mächtig. Das habe Dink gut erkannt und so auch diesen Menschen eine Stimme gegeben, sagt Etyen Mahcupyan, derzeitiger Chefredakteur und Nachfolger Dinks bei Agos. »Für Hrant gab es kaum Unterschiede zwischen den Beziehungen der Türkei zur Republik Armenien und dem Verhältnis der armenischen Gemeinde in der Türkei zur türkischen Gesellschaft«, erinnert er sich in einem Interview mit Arte. Keine gute Diagnose für die armenische Minderheit, denn die Beziehungen zwischen den beiden Staaten sind extrem angespannt.

 

»Wir haben jemanden umgebracht, dessen Gedanken wir nicht ertragen konnten«

 

So will der türkische Staat, der Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches ist, noch heute, bald 100 Jahre später, den Völkermord an den Armeniern nicht anerkennen. Dieser Umstand hat bereits zum einen oder anderen diplomatischen Zerwürfnis geführt: So berief die Türkei im Frühjahr 2010 die Botschafter aus den USA und Schweden ein und sagte Staatsbesuche ab, da in beiden Ländern Resolutionen erlassen worden waren, die die Verfolgung und Tötung der Armenier als »Völkermord« einstuften. »Ich muss sie nicht in meinem Land behalten«, drohte Premier Erdogan damals in Richtung der heute in der Türkei lebenden Armenier, von denen 70.000 türkische Staatsbürger und etwa 100.000 zugewandert sind.

 

Die meisten von ihnen waren nach dem katastrophalen Erdbeben in Armenien im Jahr 1988 in die Türkei eingewandert und arbeiten oft illegal im Land. »Falls nötig, muss ich diese 100.000 vielleicht auffordern, in ihr Land zurückzukehren, weil sie nicht meine Bürger sind«, so Erdogan in einem Interview mit dem türkischen Service der BBC. Knapp zwei Jahre nach Erdogans Zerwürfnis mit den USA und Schweden verabschiedete auch Frankreich ein Gesetz gegen die Leugnung des Genozids an den Armeniern und setzt diese genauso wie die Leugnung des Völkermords an den Juden unter Strafe. Ahmet Altan, Chefredakteur der Zeitung Taraf, ist überzeugt, dass der türkische Staat in erster Linie versuche, sein Volk unter Kontrolle zu halten.

 

Diese Ansicht teilt auch Günther Seufert, Türkei-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und Übersetzer des Ermordeten: Dink habe stets versucht, fest etablierte Identitätsvorstellungen über Türken, Armenier, Kurden, Aleviten, Sunniten und Säkularisten infrage zustellen und aufzulösen. »Denn nur wenn diese Kategorien klar voneinander abgegrenzt blieben, seien sie in einem autoritären Staat kontrollierbar.« Diese Gedanken brachten Dink kurz vor seiner Ermordung aufgrund von »Beleidigung des Türkentums« ein Urteil von sechs Monaten Haft ein. Der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk sagte nach Dinks Ermordung: »Wir sind nun alle traurig, aber wir sind auch alle in einem gewissen Sinne verantwortlich für seinen Tod. Wir haben jemanden umgebracht, dessen Gedanken wir nicht ertragen konnten.«

 

Dink rief die Diaspora-Armenier dazu auf, sich von ihrem Hass auf die Türken zu befreien

 

Dass Hrant Dink nicht nur von einem jugendlichen Nationalisten getötet wurde, sondern dieses Verbrechen vom Staat gefördert und gewollt war, davon ist die Anwältin Fethiye Cetin überzeugt. So habe ein Schreiben der Polizei aus Trabzon, der Heimatstadt des Täters, präzise Angaben zum Mordplan an Dink enthalten. Dieses Schreiben übermittelte die Polizei Trabzon an die Dienststellen in Istanbul, wo Dink lebte und arbeitete. Die Istanbuler Polizei unternahm jedoch nichts – im Gegenteil: Die Unterlagen seien sowohl vor als auch nach der Tat so verfälscht worden, dass sie den Eindruck erweckten, man habe sich dem Fall in Istanbul angenommen – auch durch das nachträgliche Hinzufügen von Schriftstücken. »Das alles und weitere schwere Vorwürfe konnten eindeutig nachgewiesen werden.

 

Dennoch wurden alle Ermittlungen eingestellt«, sagt Cetin. Ahmet Altan glaubt ebenfalls, einen eindeutigen Beweis für die wohlwollende Haltung des Staates zu erkennen: »Nichts bleibt dem Staat verborgen, auch dieses Gespräch hier nicht«, sagte er 2009 gegenüber dem deutsch-französischen Sender Arte. »Der Staat weiß auch genau, wer hinter der Ermordung von Dink steht. Wenn bei einem Mord in der Türkei die Hintermänner im Dunklen bleiben, können Sie davon ausgehen, dass der Staat direkt mitgemischt hat.« Dink hatte die Diaspora-Armenier zu Lebzeiten dazu aufgerufen, sich von ihrem Hass auf die Türken zu befreien. Dazu rief seine Frau Rakel Dink auch an seinem Grab auf: »Egal wie alt die Mörder sein mögen, ob 17 oder 27. Egal wie sie heißen – wir wissen alle, dass sie einmal Babies waren. Solange wir diese Finsternis nicht hinterfragen, die aus diesen Kindern Mörder gemacht hat, werden wir in dieser Gesellschaft nichts ändern können.« Diese Finsternis fängt schon im Kleinen an, wenn türkische, armenische und aserbaidschanische Kinder davon überzeugt werden, dass der Hass ihnen im Blut liege.

 

Wird der Fall Hrant Dink nun neu aufgerollt?

 

»Als wir damals vor 20 Jahren hierher kamen, mussten wir erst einmal tagelang putzen. Die Türken sind schmutzige Leute«, erzählt die 55-jährige Anahit Khachatryan, die in einem Dorf in Armenien an der aserbaidschanischen Grenze lebt. Die »Türken«, von denen sie spricht, leben in zwei unterschiedlichen Staaten, die je im Osten und im Westen an Armenien grenzen – das christliche Land sozusagen umzingeln. Es handelt sich um Aserbaidschan und die Türkei. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Länder, die unterschiedliche geschichtliche und politische Entwicklungen durchgemacht haben und keine gemeinsame Grenze besitzen, sich aber sprachlich und kulturell sehr nahe stehen.

 

Wenn aber Anahit von »den Türken« spricht und eigentlich Aserbaidschaner meint, scheint der Begriff nicht nur eine ethnische Bezeichnung, sondern auch politisch vorbelastet zu sein. Es scheint ein gewisser Subtext mitzuschwingen, von Bitterkeit und Abneigung, von Hass begleitet. Sie bemüht sich auch nicht, das zu verbergen. Denn das kleine christliche Land im Südkaukasus hatte in der jüngeren Vergangenheit Konflikte mit beiden Ländern. Anahit lebt in einem Dorf, das eigentlich von »Türken« erbaut wurde. Dass sie genau dort lebt, ist ebenfalls kein Zufall: Aufgrund des bewaffneten Konfliktes um das sowohl von Aserbaidschanern als auch von Armeniern bewohnte Gebiet Berg-Karabach wurden Angehörige beider ethnischer Gruppen, die zuvor im jeweils anderen Land gelebt hatten, gezwungen, in »ihr Heimatland« zurück zu gehen.

 

So kommt es, dass Armenier in ehemals aserbaidschanischen Dörfern leben und umgekehrt Aserbaidschaner in armenischen Dörfern, die zu Beginn der 1990er Jahre verlassen wurden. Zurück zu den Armeniern in der Türkei: Während der jüngsten Demonstrationen waren auch armenische Stimmen vertreten. So war auf einem Plakat folgendes zu lesen: »Ihr habt uns unseren Friedhof genommen, aber den Gezi-Park könnt ihr uns nicht nehmen.« Wo sich nämlich heute der Gezi-Park und einige Hotels befinden, befand sich einst ein armenischer Friedhof. Ein Sprichwort besagt, dass Tote, die man zu tief vergräbt, irgendwann als Gespenster wieder kommen. Sowohl in der Türkei als auch im Südkaukasus entsteht der Eindruck, dass noch viele Gespenster unterwegs sind. Doch es gibt auch Hoffnung: Auf dem Taksim-Platz stellen sich dieser Tage Türken, Armenier und Kurden gemeinsam der Polizei –und der Fall Hrant Dink könnte in diesem Jahr neu aufgerollt werden.

Von: 
Marcella Zulla

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