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Erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Ägypten

Die große Enttäuschung

Feature

Außer Ex-Premier Schafik ist niemand wirklich zufrieden mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen – selbst die Muslimbrüder nicht. Der Überraschungsdritte hofft dagegen noch auf mögliche Veränderungen nach Wahlfälschungsvorwürfen.

Ägypten hat gewählt – die Ergebnisse der ersten freien Präsidentschaftswahl standen bereits am Wochenende in allen Zeitungen, auch wenn die offizielle Bekanntgabe erst für Montag geplant war. Nach bisherigem Stand erreichte der Muslimbruder Muhammad Mursi knapp das stärkste Ergebnis mit 25 Prozent, dicht gefolgt von Mubaraks letztem Premierminister Ahmed Schafik mit 24 Prozent, dritter ist der Linksnationalist Hamdeen Sabbahi mit 22 Prozent, dahinter der moderate Islamist Abdel Moneim Abou El Fotouh mit 18 Prozent und der ehemalige Außenminister Amr Moussa mit 11 Prozent.

 

Demnach wird es am 16. Und 17. Juni zur Stichwahl zwischen Muhammad Mursi und Ahmed Schafik kommen.  Doch Sabbahi, Moussa und Abou El Fotouh haben bereits Klage gegen das Ergebnis wegen Wahlverstößen und -fälschung eingelegt. Der Vorwurf: viele Polizisten, Soldaten und andere Personen des Sicherheitsapparates, die laut Gesetz nicht wählen dürfen, hätten mit gefälschten Pässen doch abgestimmt – für Schafik. Außerdem sei es bei der Auszählung in einigen Governoraten zu Unregelmäßigkeiten gekommen.

 

Die Kläger verlangen, die Auszählung teilweise oder ganz zu wiederholen. Sabbahi spricht von 900.000 Fällen, was das Ergebnis tatsächlich noch ändern könnte. Das Wahlergebnis überrascht in mehrerer Hinsicht. Zunächst einmal ist da die große Überraschung Schafik. Natürlich wusste man vor der Wahl, dass viele Menschen sich Sicherheit wünschen und daher für einen Kandidaten des alten Regimes stimmen würden. Dass es aber so viele sind, dass sie sich auf eine Region (das Nildelta) fokussieren und warum diese Wählergruppe nicht für Amr Moussa gestimmt hat, das ist vielen ein Rätsel.

 

Skepsis gegenüber dem »Reservereifen«

 

Die zweite vielleicht, noch viel größere Überraschung ist Hamdeen Sabbahi. In der letzten Woche vor der Wahl zeichnete sich bereits ab, dass die Stimmung zu Gunsten Sabbahis kippte und viele Wähler aus ganz unterschiedlichen Milieus und Richtungen nun begeisterte Anhänger Sabbahis waren. Plötzlich war der Nasserist, der als absoluter Außenseiter gestartet war und mit einer guten, aber rudimentären oder kostengünstigen Kampagne für sich warb, einer der Topfavoriten.

 

Besonders gut kam seine einfache, bodenständige Art an, etwa sein Wahlspruch »Einer von uns«. Seine klare, einfache Sprache bot den Wählern eine gute Alternative zu religiöser und politischer Propaganda. Die Tatsache, dass er ein säkularer Kandidat ist, schadete ihm nicht, im Gegenteil. Die islamistischen Wähler sorgten für die nächste Überraschung. Im Gegensatz zu den Parlamentswahlen im November, in denen islamistische Parteien zusammen etwa 70 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnten, zeigte diese Wahl eine deutliche Abwendung von islamistischen Kandidaten. Die absolute Mehrheit der Wähler entschied sich für säkulare Kandidaten.

 

Trotz Wahlempfehlung der Salafisten brachte es Abou El Fotouh nur auf 18 Prozent. Und die Muslimbrüder fielen von über 40 Prozent auf nun 25 Prozent – und das trotz sehr aufwendiger Wahlkampagne. In Alexandria, einer sehr konservativen Stadt, die als Basis der Salafisten bekannt ist, entschied sich die Mehrheit für den säkularen Kandidaten Hamdeen Sabbahi. Ein Grund dafür ist sicherlich die schlechte Performance der Islamisten im Parlament. Keines der dringenden Probleme wurde bisher gelöst, den einfachen Menschen geht es nicht besser – die Muslimbrüder machten negativ wegen ihrer Machtspielchen von sich reden, die Salafisten fielen vor allem wegen mangelnder Disziplin im Parlament auf.

 

Besonders überrascht, oder schockiert und enttäuscht, sind alle, die die Ziele der Revolution unterstützen und einen echten Machtwechsel wollen. Kandidaten, die etwas verändern wollten, die sich deutlich zum demokratischen Wandel bekannt haben, die sich die Forderungen der Revolution auf die Fahnen geschrieben haben, sind nun nicht mehr im Rennen. Stattdessen bleibt Mursi, der Ersatzkandidat der Muslimbrüder, der als Bürokrat ohne Charisma gilt.

 

Er wird von vielen nur »Reservereifen« genannt wird, da er nur die zweite Wahl der Muslimbrüder ist, nachdem ihr ursprünglicher Kandidat disqualifiziert worden ist. Zusammen mit der breiten Parlamentsmehrheit hätten die Muslimbrüder dann die Möglichkeit, völlig frei und kompromisslos zu regieren. Auch auf die Verfassung hätten sie so großen Einfluss. Viele fürchten daher die so entstehende Monopolstellung der Islamisten. Besonders Christen, Frauen und Säkulare befürchten eine islamistische Politik auf Kosten von Minderheiten.

 

Ergebnis und Konsequenzen der Wahlen werden an jeder Straßenecke diskutiert

 

Auf der anderen Seite bleibt Ahmed Schafik, einer der »Fulul«, ein Mann des alten Regimes. Für viele hat Schafik Blut an den Händen, er habe während der Revolution die Angriffe auf die Demonstranten befohlen. Der Ex-General und langjährige Minister unter Mubarak hat sich vor der Wahl klar positioniert: er wolle Sicherheit wieder herstellen, um jeden Preis. Demonstrationen wolle er verhindern, sie seien unberechtigt. Ein Mann des harten Durchgreifens mit enger Verbindung zum Militär also, der für Folter, Korruption und Polizeigewalt steht.

 

Viele vermuten, dass er das Parlament sofort auflösen wird, sollte es ihm in die Quere kommen. Der demokratische Übergang könnte somit ein rasches Ende finden. Wer nun die besseren Chancen in der Stichwahl hat, ist schwer zu sagen. Die Muslimbrüder waren wegen ihres knappen Wahlsiegs deutlich besorgt und nervös. Schnell riefen sie zu einem Treffen aller politischen Kräfte, um gemeinsam gegen Schafik zu kämpfen. Sie gaben Fehler zu, versprachen die Bildung einer Einheitsregierung mit Mitgliedern aus allen politischen Parteien, sie boten Hamdeen Sabbahi das Amt des Vizepräsidenten an.

 

Dieser lehnte selbstbewusst ab. »Ich kämpfe für die Revolution!«, so ein kämpferischer Sabbahi bei seiner Pressekonferenz am Samstag. Er sei nicht bereit, Sekretär für die Muslimbrüder zu spielen. Auch andere Parteien, darunter die Salafisten, waren nicht bereit, Muhammad Mursi so einfach ihre Wahlempfehlung auszusprechen. Einige verlangten, Mursi solle seine Kandidatur zurückziehen und so Platz für Sabbahi machen, wenn es ihm wirklich um die Ziele der Revolution ginge. Die Verhandlungen haben auf jeden Fall begonnen. Eine Wahlempfehlung für Mursi wird die Muslimbrüder bei dem schlechten Ergebnis auf jeden Fall teuer zu stehen kommen.

 

Derweil werden das Ergebnis und die Konsequenzen an jeder Straßenecke diskutiert. Soll man nun wohl oder übel für Mursi stimmen, um Schafik zu verhindern? Oder soll man sich der Stimme enthalten? Werden womöglich viele Menschen aus Angst vor den Muslimbrüdern für Schafik stimmen? »Ich will nicht Mursi wählen, ich demonstriere gegen die Brüder, aber wähle sie doch nicht…aber ich fürchte, ich muss, um die Revolution zu retten«, so die Meinung vieler Aktivisten und Liberalen. »Und wer sagt, dass die Muslimbrüder die Revolution und nicht ihre eigene Macht retten wollen?«, entgegnen andere.

 

In jedem Fall polarisiert die Stichwahl und wird viele enttäuschen, die diese freie Wahl erst möglich gemacht haben: säkulare Anhänger der Revolution. Ob sie dann wieder auf die Straße gehen? »Welches Recht haben wir denn dazu?! Nur weil die Mehrheit jemanden gewählt hat, der mir nicht gefällt? Dagegen kann man doch nicht demonstrieren, das muss man wohl bitter akzeptieren.« Zumindest im Falle der Wahl von Schafik werden das sicherlich nicht alle so sehen, dafür ist die Person Schafik einfach zu umstritten.

 

Doch ob sich wieder Massen zu Demonstrationen mobilisieren lassen, ist ungewiss. Erst einmal bleiben aber das offizielle Ergebnis sowie die Untersuchungen der Wahlfälschung abzuwarten. Vielleicht erlebt Ägypten dann noch eine Überraschung.

Von: 
Victoria Tiemeier

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