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Eskalation im Irak

Zurück in den Bürgerkrieg?

Analyse

Jahrelang versäumte es die irakische Politik, die Probleme des Landes anzugehen. Jetzt schließen sich immer mehr Frustrierte sunnitischen und schiitischen Milizen an. Die Staatsmacht schaut der Eskalation hilflos zu.

Seitdem die Zahl der Anschläge sunnitischer Extremisten jeden Monat größer wird und in Bagdad schiitische Milizen erneut mit Checkpoints und willkürlichen Hinrichtungen gegen Terroristen vorgehen, steigt die Angst im Irak: »Seit 2008 haben wir von solchen Dingen nichts mehr gehört«, sagte ein 21-jähriger Schiit aus der Hauptstadt. Nun meide er vorerst bestimmte Nachbarschaften: »Ich gehe nicht mehr in sunnitische Gebiete, weil ich mich dort nicht mehr sicher fühle.«

 

Eine Frau bestätigte, dass sich Sunniten und Schiiten zunehmend aus dem Weg gehen: »Die Leute befürchten eine Wiederholung der Massaker von 2006«, meinte die Hauptstädterin bereits im Mai. Tatsächlich erinnert die Zahl der monatlichen Gewaltopfer zurzeit an die Verhältnisse von 2008, als der Bürgerkrieg im Irak gerade abflaute. So starben im Mai 2013 laut den vorläufigen Erhebungen der Organisation »Iraq Body Count« 883 Menschen, im Juni 622 und im Juli 941 Personen. Bislang verloren in diesem Jahr bereits 4099 Iraker ihr Leben.

 

Damit ist vorherzusehen, dass die Gesamtzahl der Opfer in 2013 deutlich höher liegen wird als in den vergangenen drei bis vier Jahren. Verursacht wurde dieser Anstieg in erster Linie durch eine neue Offensive von »Al-Qaida im Irak« (AQI), mit der die Terrororganisation die Gegensätze zwischen den Religionsgruppen im Land verschärfen möchte. Dies hatte sich schon länger angekündigt. So griff AQI seit Juli 2012 mit neuer Konstanz die schiitische Zivilbevölkerung ebenso wie die Mitglieder der sunnitischen Sawah-Milizen an.

 

Dabei brachte die Organisation vor allem Selbstmordattentäter und Autobomben zum Einsatz. Deren Anzahl und ihr gleichzeitiges Auftreten an verschiedenen Orten haben sich seit diesem Frühjahr allerdings deutlich gesteigert. So explodierten etwa am 29. April Sprengsätze in mehreren Städten, die 26 Menschen in den Tod rissen. Einen Höhepunkt erreichte die Kampagne am 20. Mai mit simultanen Anschlägen in Bagdad, Samarra und Basra, bei denen 113 Menschen ums Leben kamen. Dies wiederholte sich am 27. Mai, als die Organisation es schaffte, allein in Bagdad 13 Bomben gleichzeitig zu zünden.

 

Wie stark sich AQI von früheren Niederlagen erholt hat, zeigte zuletzt die Befreiung von über 500 Gefangenen aus dem Hochsicherheitsgefängnis Abu Ghraib am 21. Juli: »Die Terroristen, nicht die Sicherheitskräfte, haben jetzt die Initiative«, beklagte danach ein Parlamentsabgeordneter der kurdischen Fraktion. Dies entsprach offenkundig auch der Einschätzung derjenigen Schiiten, die nach den Angriffen im Mai ihre Selbstverteidigung reorganisierten. So berichteten Einwohner in Bagdad über die Absperrung sunnitischer Nachbarschaften und die Errichtung von Check-Points durch Angehörige schiitischer Milizen.

 

An solchen Kontrollposten fanden in der Vergangenheit willkürliche Hinrichtungen statt. Dies hat sich offenbar zumindest in einem Fall am 26. Mai wiederholt. An diesem Tag wurden drei Personen von Milizionären in der Nähe der Universität aufgegriffen, deren Leichen zwei Tage später an einem Ort entdeckt wurden, an dem bereits 2007 Opfer der Milizen aufgefunden worden waren. Bestätigt ist auch die Hinrichtung eines Ladenbesitzers durch verkleidete Polizisten am selben Tag.

 

Zudem scheint es zu Übergriffen schiitischer Milizionäre gegen sunnitische Moscheen in Bagdad und in der Provinz Diyala gekommen zu sein. Die Regierung hat angekündigt, entschieden gegen solche Gewalttaten vorzugehen. So erklärte Premierminister Nuri al-Maliki: »Wir werden alle illegalen Milizen und bewaffneten Gruppen zur Strecke bringen, die eine Welle von innergesellschaftlichen Kämpfen auslösen wollen.«

 

»Jetzt werden wir Waffen tragen«

 

Bislang hat die irakische Regierung allerdings wenig zur Stabilisierung der Lage beigetragen. Im Gegenteil hat sie die derzeitige Krise in den letzten Monaten sogar selbst angeheizt. Denn seit Jahren sperren sich die schiitischen Regierungsparteien in Bagdad gegen einen konstruktiven und versöhnlichen Umgang mit der sunnitischen Bevölkerungsminderheit, die für alle Untaten der Baath-Diktatur von Saddam Hussein verantwortlich gemacht wird.

 

Zudem gelten die Sunniten immer noch als Sicherheitsrisiko, da ihnen pauschal Sympathien für Neo-Baathistische Gruppen, wie die Naqshabandi-Armee (JRTN), oder sogar für al-Qaida unterstellt werden. In der zweiten Amtszeit von Nuri al-Maliki wurden sunnitische Amtsträger daher systematisch aus Schaltstellen in Bagdad entfernt. Mit ihrer zerstrittenen und unwirksamen Gegenwehr diskreditierten sich die Politiker anschließend weitgehend selbst. Daher organisierten im Dezember 2012 sunnitische Scheichs und religiöse Würdenträger Massendemonstrationen, um gegen die politische Ausgrenzung ihrer Bevölkerungsgruppe zu protestierten.

 

Gegen den Unfrieden in mehreren Provinzen versuchte der Premierminister mit Zuckerbrot und Peitsche vorzugehen. So signalisierte er Gesprächsbereitschaft, lies aber gleichzeitig die Irakischen Sicherheitskräfte aufmarschieren. Diese gerieten wiederholt mit den Protestlern aneinander. Schließlich löste die Durchsuchung eines Protestcamps in dem Dorf Hawija nahe der Stadt Kirkuk am 23. April schwere Gefechte aus, die sich über mehrere Tage hinzogen. Dabei leistete vor allem die Naqshabandi-Armee den größten Widerstand und versuchte die Bevölkerung zu einer Rebellion aufzustacheln. Das Militär ging schließlich mit Kampfhubschraubern gegen die Aufständischen vor. Nach vier Tagen mussten über 300 Tote gezählt werden.

 

Für Saddoun al-Obaidi, ein führendes Mitglied der Protestbewegung bewies das »Massaker von Hawija« die Sinnlosigkeit weiter auf ein Einlenken der Bagdader Regierung zu hoffen: »Die friedlichen Demonstrationen sind durch das, was heute passiert ist, zu Ende. Jetzt werden wir Waffen tragen. Wir haben alle Waffen, die wir brauchen und wir bekommen Unterstützung aus anderen Provinzen.« Tatsächlich radikalisierte sich die Stimmung in den sunnitischen Landesteilen nach Hawija deutlich. Während die Kundgebungen an Zuspruch einbüßten, nahmen Angriffe auf die Sicherheitskräfte zu.

 

In der Provinz Anbar schlossen sich bereits am 26. April mehrere Stämme zu einer gemeinsamen Miliz zusammen, um »die Ehre, Freiheit und Würde der sunnitischen Bevölkerung gegen Maliki und sein Militär zu verteidigen«. Auch die Botschaft von al-Qaida oder der Naqshabandia-Armee erhielten nun wachsende Zustimmung. So forderten Demonstranten in Falludscha einen Dschihad gegen Bagdad. Ebenfalls in Falludscha gab eine Protestgruppe ihren Beitritt zur Naqashabandi-Armee bekannt.

 

Einen Monat später tönte der Student Said al-Lafi als Sprecher der irakischen Protestbewegung auf einer Konferenz in Doha, dass »unsere Revolution im Irak eine Ausweitung von der in Syrien« sei und sich gegen eine iranische »Verschwörung gegen unsere Religion« richte. Sobald Syrien in der Hand der Freien Syrischen Armee sei, »wird der Irak der nächste Schritt sein«. Trotz dieser Entwicklung blieb die Führung der Proteste jedoch an einer friedlichen Lösung interessiert.

 

So sicherten die Stammesführer Ali Hatem al-Suleiman und Ahmed Abu Risha dem Militär die Auslieferung von Personen zu, die Kontrollposten der Sicherheitskräfte angegriffen hatten. Zudem gaben die Organisatoren am 2. Mai bekannt, dass sie den angesehenen Geistlichen Abd al-Malik al-Saadi mit der Führung von Verhandlungen beauftragt hätten. Diese Annäherung wurde einen Tag später durch eine Stellungnahme von 40 Stammesführern aus Anbar ergänzt, in der die Scheichs bewaffnete Kämpfe verurteilten und die Bestrafung all derjenigen verlangten, die für den Tod Unschuldiger verantwortlich seien.

 

Auch in der Provinz Kirkuk ließen sich kompromissbereite Stimmen vernehmen. Hier bekundeten Stammesführer ihren Kooperationswillen mit dem Militär. Für Premierminister Maliki besteht somit noch immer die Möglichkeit zumindest Teile der Opposition einzubinden und ein Abdriften der sunnitischen Landesteile zu verhindern.

 

Baut Maliki seinen Vize als Königsmacher auf?

 

Tatsächlich kommt die Dialogbereitschaft der Stämme aber auch der bislang verfolgten Gesamtstrategie des Premiers entgegen. Bereits in den vergangenen zwei Jahren hat Maliki erfolgreich Gegensätze unter seinen Gegnern ausgenutzt, um diese weiter zu spalten. Politisch gelang ihm dadurch die Schwächung des sunnitischen Parteienblocks Iraqiya, aus dem Maliki einzelne Abgeordnete herausbrach. Diese scharten sich vor allem um den stellvertretenden Premierminister, Saleh al-Mutlaq. Dessen Position als ein, in Bagdad akzeptierter Sprecher der Sunniten, suchte Nuri al-Maliki auch während der Proteste bewusst zu stärken.

 

So wurde Mutlaq zum Vermittler, der die Forderungen der Demonstranten aufnahm und Erleichterungen verkünden durfte. Im März wurde das Gesetz über Durchsuchungen und Verhaftungen aufgrund anonymer Hinweise aufgehoben, das massiv zum willkürlichen Vorgehen gegen Sunniten beigetragen hatte. Anfang April wurde zudem eine Lockerung des Berufsverbots für ehemalige Baath-Funktionäre angekündigt.

 

Zur selben Zeit erklärte Nuri al-Maliki eine Regierungsumbildung zu seinem Ziel. Diese solle die offiziell seit 2010 eingesetzte Allparteienherrschaft beenden und ein Kabinett der Mehrheit formen. Im Blick hatte der Premier dabei offenkundig eine Allianz mit Saleh al-Mutlaq, dem Chancen für einen Machtzuwachs in den anstehenden Provinzwahlen zugebilligt wurden. Eine solche schiitsch-sunnitische Regierung sollte den Einfluss der Kurden und der Konkurrenten des Premiers in den eigenen Reihen schwächen und dem Land neue Stabilität geben: »Wir sind auf dem Weg eine politische Mehrheitsregierung zu bilden, um die Staatsgeschäfte zu führen und wir werden dafür den ethnisch-religiösen Proporz aussetzen; wir werden uns mit denen verbinden, die am Aufbau des Landes mitwirken.«

 

Doch das Projekt der Mehrheitsregierung, der strategischen Antwort Malikis auf die zunehmende Spannung im Irak, scheint vorerst gescheitert zu sein. Denn sowohl Maliki als auch dessen sunnitischer Wunschpartner Mutlaq erlitten in den Provinzwahlen am 20. April und am 20. Juni deutliche Niederlagen. Insbesondere Mutlaq scheint auch nach seiner prominenten Vermittlerrolle wenig Rückhalt in der sunnitischen Bevölkerung zu besitzen. Statt seiner gewannen Anti-Maliki-Parteien vor allem in Anbar, Salah ad-Din und Bagdad dazu.

 

Das Wahlbündnis des Premierministers blieb zwar stärkste Kraft, verlor aber dennoch über 30 Prozent seiner Mandate in den Landesparlamenten. Aufwind erhielten hingegen Konkurrenten des Premiers, wie die Sadr-Bewegung und der Oberste Islamische Rat im Irak, die offenbar durch Malikis Bereitschaft, Zugeständnisse bei der Ent-Baathifizierung zu machen, in der schiitischen Wählerschaft punkten konnten. Eine Lösung der politischen Krise, der Ursache der derzeitigen Sicherheitskrise im Irak, ist nach diesen Ergebnissen kaum zu erwarten.

 

Wahrscheinlicher ist, dass sich der zähe Positionskrieg der Parteien weiter fortsetzten wird. Dadurch lässt sich auch eine zunehmende Gewaltbereitschaft bei vielen frustrierten Irakern, mit angefeuert durch den Krieg in Syrien, prognostizieren. Ob das Land somit zu einem neuen Bürgerkrieg verurteilt ist, bleibt aber dennoch offen. Denn der Irak steht bereits seit Jahren am Rand eines neuen Konflikts. Doch noch immer sind die zentralen Akteure nicht Willens, einen absoluten Bruch zu riskieren, dessen erschreckende Folgen ihnen aus den Jahren 2006-2008 noch gut in Erinnerung sind.

Von: 
Hauke Feickert

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