Wer von den frühen Muslimen stand dem Propheten am nächsten? Diese Frage war nicht nur von ideellem Wert, sie zog handfeste materielle Konsequenzen nach sich.
Unter den »Prophetengefährten« – arabisch Aṣḥab al-Nabi – versteht man gemeinhin diejenigen Zeitgenossen des Propheten, die Muslime geworden waren und den Propheten persönlich gesehen hatten oder sogar kannten. Ein eigenes Genre in der islamischen Literatur beschäftigt sich mit ihnen: Die »Verdienste der Prophetengefährten« (Faḍa‘il oder Manaqib al-Aṣḥab), in der eben deren Vorzüge und Leistungen beschrieben werden. Sie sind eine Untergattung der Sira-Literatur, also der biographischen Schilderungen des Lebens Muhammads.
Die Sira-Literatur ist nämlich nicht nur am Propheten interessiert, sondern auch an seinen Gefährten, die zusammen die erste islamische Gemeinschaft bildeten. Sie ist ein Archiv von Genealogien und Namenslisten der Gefährten und enthält unzählige Erzählungen über deren Handlungen. Mittels solcher Erzählungen versuchten die Menschen, die Vergangenheit lebendig zu halten, wie sie das immer getan hatten.
Spätere Generationen versuchten ihre Vorfahren so positiv wie nur möglich darzustellen, von ihren Taten zu erzählen, die vom Propheten gutgeheißen oder gar gepriesen wurden und ihre Verdienste für den werdenden Islam zu betonen – gegebenenfalls indem man sie den Makeln (maṯālib) anderer Gefährten gegenüberstellte. Dafür gab es auch einen praktischen Grund. Die Stellung eines Gefährten unter den Empfängern von Zuwendungen aus der Staatskasse basierte auf den Berichten, die es über ihn gab.
Überdies, bevor das vorbildliche Handeln des Propheten – die Sunna Muhammads – seinen zentralen Platz im islamischen Recht einnahm, waren die Gelehrten an den Handlungen der ersten Kalifen genau so stark interessiert gewesen, denn die waren ja ebenfalls Gefährten gewesen. So konnte auch deren Tun und Lassen als Mittel zur Bestimmung des richtigen Verhaltens herangezogen werden. Darum wundert es nicht, dass verschiedene Sira-Werke auch die Periode nach dem Tod Muhammads abdecken.
Eine Untergattung der »Verdienste« bilden die Awa‘il, die mitteilen, wer etwas zum ersten Mal getan hat: »Der erste Mann, der an den Propheten glaubte, war ‘Ali.« – »‘Abdallah ibn Mas‘ud war der erste nach dem Propheten, der den Koran öffentlich in Mekka rezitierte.« – »Der erste, der das Freitagsgebet in Medina verrichtete, war Mus‘ab ibn ‘Umair.« Es wird selbstverständlich gewesen sein, dass man für frühe Konvertiten mehr Respekt hatte als für spätere.
Rivalität prägt die Geschichten der Gefährten
Die Wirkung der Gattung »Verdienste der Prophetengefährten« kann vielleicht am besten anhand einer Einzelperson gezeigt werden. Sa‘d Ibn Abi Waqqas (gestorben nach 660) war einer der ersten Muslime. Er war der Heerführer in mehreren Feldzügen, nahm an allen wichtigen Schlachten teil und wurde ein erfolgreicher General. Aber als er die Armee anführte, die etwa 636 bei Qadisiya die Perser besiegte, war er nicht persönlich bei der Schlacht zugegen – angeblich aus gesundheitlichen Gründen.
Manche Autoren kritisieren ihn ob dieser Abwesenheit. Eine Sira-Erzählung unterstreicht die Kritik noch, indem sie Sa‘ds Verhalten in die Zeit des Propheten zurückprojiziert: Sie berichtet, dass Sa‘d aus irgendeinem trivialen Grund verhindert war, an einem bestimmten Kriegszug teilzunehmen, wie Muhammad ihm aufgetragen hatte. Im Gegensatz dazu betonen andere Texte, dass Sa‘d der erste war, der für den Islam Blut vergoss, und der erste, der für die Sache des Islams einen Pfeil abschoss.
Sind das normale Lobsprüche oder Versuche, den Schandfleck aus Sa‘ds Lebenslauf zu tilgen? Wie auch immer, das Beispiel zeigt, wie ein Gefährte in Sira-Texten eine gute oder schlechte »Presse« bekommen konnte. Insbesondere die Haltungen gegenüber den ersten Kalifen, den wichtigsten Gefährten Muhammads, variieren stark. Sowohl ihre Anhänger wie auch ihre Gegner versuchten in Erzählungen zu punkten, zum Beispiel in den unterschiedlichen Geschichten zum Sterbebett des Propheten, die das Problem seiner Nachfolge thematisieren.
Ein Sonderfall ist ‘Abbas Ibn ‘Abd al-Muttalib. Er war Muhammads Onkel – aber kein »Gefährte«, weil er nie Muslim wurde. Für die Abbasiden, die 750 der Umayyadendynastie die Macht abrangen, war er ein prestigeträchtiger Vorfahr, den sie für ihre Legitimation benötigten – schließlich machte er sie ja ein bisschen mit dem Propheten verwandt. Auch der Name ihrer Dynastie stammt von ‘Abbas. Von daher finden wir bei Ibn Ishaq – der am Abbasidenhof arbeitete – positive Berichte über ‘Abbas, wohingegen Wahb Ibn Munabbih ihm nicht gewogen ist und Musa Ibn ‘Uqba uns glauben machen will, dass ‘Abbas mit den Helfern aus Medina verwandt war.
Verdienste haben ihr Gegenstück in »Makeln« (Matalib). Diese werden nicht immer so subtil wie im Fall von Sa‘d Ibn Abi Waqqas dargeboten. In der Erzählung über die frühe muslimische Auswanderung nach Äthiopien und den Besuch heidnischer Mekkaner beim Negus – dem Herrscher jenes Landes – sind die guten Charaktere frühe Muslime mit tadellosem Ruf, während die Bösewichte als späte, etwaig opportunistische Konvertiten bekannt sind.
Die wundersame Bekehrung ‘Umars
Die Sira ist nicht nur an Einzelpersonen interessiert, sondern bietet auch Episoden aus der Stammesgeschichte, zum Beispiel Berichte zu den Delegationen beim Propheten und ihren Verträgen mit ihm, oder zu Stammeskonflikten. Auch die Rivalität zwischen den muslimischen Emigranten und ihren »Helfern« in Medina kommt ebenfalls in der Sira zum Ausdruck. Im Koran selbst findet sich zu den »Verdiensten« wenig – es sei denn, man denkt an die Erwähnung bestimmter privilegierter Gruppen in den Versen 9:100, 56:10–11 und 59:9–10.
Dazu gibt es etliche Verse zu den »Heuchlern« (munafiqun), die in der Sira übrigens ebenfalls ausführlich behandelt werden. Einen biblischen Hintergrund für die »Verdienste«-Literatur gibt es nicht, es sei denn, man denkt an vage thematische Parallelen wie die Bekehrungsgeschichte des ‘Umar: ein gefürchteter Feind des Islams, der sich dann in einen glühenden Verteidiger verwandelt – so wie es einst Paulus im werdenden Christentum ergangen war.
Beide Männer hatten zuerst die neue Religion aufs Heftigste bekämpft. Die Bekehrung des Paulus geschah urplötzlich, als ihm auf dem Weg nach Damaskus eine augenblendende Vision widerfuhr. Bei ‘Umar kam die Wende ebenso blitzartig, als er aus der Wohnung seiner Schwester Fatima – nicht zu verwechseln mit der Tochter Muhammads – jemanden den Koran rezitieren hörte. Der Koran spielt die Hauptrolle bei seiner Bekehrung: das ist fein islamisch gedacht.
Der noch unbekehrte ‘Umar stürmte ins Zimmer seiner Schwester und fragte in barschem Ton, was das zu bedeuten habe. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten! Sofort verbarg Fatima das Blatt mit dem Korantext, und zwar, indem sie sich daraufsetzte. Moderne islamische Koranverehrer würden es wohl nie wagen, auf so eine Idee zu kommen, aber so steht es in der berühmten Prophetenbiographie von Ibn Ishaq aus dem achten Jahrhundert.
Zu der Zeit waren die Menschen noch nicht so zimperlich. ‘Umar will das Blatt sehen, aber seine Schwester weigert sich, es herauszugeben, mit der Begründung, dass er unrein sei und der Koran nur von Reinen berührt werden dürfe. Nachdem er sich gereinigt hat, liest ‘Umar das Blatt dann doch – und wird bekehrt. Es ist offensichtlich: Der Erzähler hatte hier die Koranverse 56: 77–79 im Kopf, einen Passus, in dem der Koran selbst im Mittelpunkt steht: »Es ist wirklich ein vorzüglicher Koran, in einer verborgenen Schrift, die nur Reine berühren dürfen.« Über die »verborgene Schrift« – kitab maknun – ist im Laufe der Jahrhunderte viel Tiefsinniges gesagt worden: Sie werde von Gott im Himmel aufbewahrt usw. Aber der Erzähler dieser frühen Geschichte hat daran nicht gedacht. Er hat den beiden Wörtern eine einfache, etwas derbe Bedeutung gegeben, indem er Fatima das Blatt auf ihre Weise »verbergen« ließ.