Die öffentliche Debatte verkürzt den Salafismus oft auf gewaltbereite Anhänger. Die Absicht, das Leben nach Maßstäben des ursprünglichen Islams zu gestalten, kann jedoch ganz verschiedene Formen annehmen – von unpolitisch bis kriegerisch.
»Der Salafismus ist die größte sicherheitspolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts«, verkündete Hessens Innenminister Boris Rhein 2013. Aussagen wie diese führen vor Augen, wie verengt die öffentliche Debatte über dieses Thema stellenweise geführt wird und wie sehr es dabei zur Vermengung von Begriffen kommt. »Salafismus« wird nicht nur von Rhein als Synonym für religiös motivierte Gewalt verstanden.
Während die Sorge über die Radikalisierung und Gewaltbereitschaft junger Menschen, die sich terroristischen Gruppen anschließen, berechtigt ist, darf der Diskurs darüber nicht auf der Basis von Pauschalisierungen, Vorurteilen und falschen Begrifflichkeiten geführt werden. Der Salafismus ist eine bedeutende Strömung des sunnitischen Islamismus, die seit einigen Jahren weltweit an Zulauf gewinnt. Die Bezeichnung Salafismus (salafiya) leitet sich ab vom arabischen al-salaf al-salih – den »frommen Altvorderen« –, auf die Salafisten sich rückbesinnen.
Gemeint sind die ersten drei Generationen der frühen Muslime, die im 7. und 8. Jahrhundert den Islam begründeten. Der Salafismus strebt an, das Leben nach den ursprünglichen Regeln des Islams zu gestalten, das heißt gemäß dem Koran sowie der Sunna, der Tradition Muhammads und der Urgemeinde. Diese Quellen sind nach salafistischer Auffassung wörtlich auszulegen. Jegliche Entwicklung, die der Islam in den letzten 1.400 Jahren durchlaufen hat, wird zurückgewiesen. Die Salafisten arbeiten darauf hin, ein islamisches Gemeinwesen zu schaffen und die Scharia als Rechtsordnung umzusetzen.
Im Unterschied zu anderen islamistischen Strömungen, die diese Ziele ebenfalls verfolgen, sind sie jedoch stärker auf Doktrin und Glaubensfragen fokussiert und weniger politisiert. Salafisten betrachten alle als Ungläubige, die sich nicht der von ihnen propagierten »reinen« Lehre unterwerfen – auch andere Muslime. Das Ziel, das Leben nach der ursprünglichen Lehre zu gestalten, kann als der kleinste gemeinsame Nenner des Salafismus betrachtet werden.
Darüber hinausgehend zerfällt er in viele verschiedene Strömungen, die sich unter anderem mit Blick auf die genaue Ausgestaltung des islamischen Lebens unterscheiden sowie in der Wahl der Mittel, diesen Wandel herbeizuführen. In Fachkreisen wird daher zwischen verschiedenen salafistischen Gruppierungen differenziert. Der jordanische Islamismusexperte Mohammad Abu Rumman beispielsweise identifiziert vier wesentliche Kategorien: Traditionelle, Jami-, Haraki- und dschihadistische Salafisten. Dies ist nicht als rigide Klassifizierung zu verstehen, dient jedoch einer groben Orientierung über die jeweiligen Motive und Ziele. Auch ist die Typologie nicht erschöpfend – je nach Kontext treten manche Charakteristika in den Vordergrund und haben bestimmte Gruppen eine besondere Bedeutung.
Traditionelle Salafisten sind konservativ und oft akademisch geprägt. Ihr Fokus liegt auf der Propagierung eines frommen, islamkonformen Lebens des Einzelnen wie des Kollektivs. Sie wollen durch Missionierung und Aufklärung gesellschaftliche Veränderungsprozesse anstoßen; politische Partizipation lehnen sie ab. Nasir al-Din al-Albani, ein albanisch-syrischer Vordenker dieser Richtung, ging 1994 sogar so weit, in einer Fatwa an die Palästinenser zu appellieren, in andere islamische Länder auszuwandern.
Denn vor dem Hintergrund der israelischen Besatzung sei ein Leben nach den Regeln des Islams nicht zu führen. Jami-Salafisten, so genannt nach ihrem äthiopischen Vordenker Muhammad Bin Aman al-Jami, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Saudi- Arabien lehrte, können als obrigkeitshörig eingestuft werden. Ihrer Auffassung nach gilt es, sich dem jeweils Herrschenden zu unterwerfen, politische Opposition betrachten sie als illegitim. Dies bezieht sich allerdings nur auf Muslime, die in arabisch-islamischen Staaten leben. Jami-Salafisten kritisieren regelmäßig andere islamistische Bewegungen, darunter die Muslimbruderschaft, für ihren politischen Widerstand gegen herrschende Regimes. Parteien und Wahlen lehnen sie als unislamisch ab.
Haraki-Salafisten, also »aktivistische« Salafisten, vereinen in ihrer Überzeugung sowohl die religiöse Doktrin der Salafisten als auch ein friedliches Engagement zur Erreichung ihrer Ziele. Sie weisen Gewalt zurück und erkennen die Legitimität politischer Mechanismen an. Diese Gruppe ist seit dem Arabischen Frühling stark angewachsen. Lehnten die meisten Salafisten politisches Engagement ursprünglich ab, gibt es heute salafistische Parteien, zum Beispiel in Ägypten, und die Bedeutung salafistischer Akteure durch ihre Beteiligung etwa an Wahlen hat zugenommen.
Dschihadistische Salafisten sind bereit, ihre Ziele mittels Gewalt umzusetzen. Sie berufen sich auf die vermeintliche Pflicht, im Namen Gottes den Kampf gegen Ungläubige aufzunehmen. Dabei beziehen sie sich unter anderem auf die Lehre des Ägypters Sayyid Qutb, der im 20. Jahrhundert richtungweisende islamistische Schriften veröffentlichte. Salafistisch-dschihadistische Gruppierungen haben indessen unterschiedliche Auffassungen, wo dieser Kampf ausgetragen werden soll. Während die einen sich auf den »nahen Feind« konzentrieren – die »ungläubigen« heimischen Regimes –, betonen die anderen, dass der »ferne Feind«, also die USA und der Westen allgemein, als Stütze dieser Regimes das primäre Ziel sein sollte.
Nicht alle Dschihadisten sind zwingend Salafisten – in den 1990er Jahren haben einige Gruppen jedoch beide Ideologien fusioniert
Somit gibt es Gruppen, die sich darauf beschränken, in ihrer Heimat gegen Regimes vorzugehen, die sie als ungläubig, korrupt und dekadent empfinden. Oder sie streben die Befreiung muslimischer Gebiete an, die von Ungläubigen besetzt sind – das Paradebeispiel ist der Kampf der Mudschaheddin gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan. Dieser Trend hat seither stark an Popularität gewonnen und ist vielerorts zu beobachten, etwa im Irak, in Syrien oder Tschetschenien.
Die zweite, internationalistische Strömung, die den Begriff des »Global Jihad« geprägt hat, ist antiamerikanisch beziehungsweise antiwestlich ausgerichtet. Al-Qaida steht bis heute für Dschihadisten dieser Richtung. Sie streben an, Ziele in den USA, Israel und anderen westlichen Ländern anzugreifen. Nicht jeder Dschihadist ist zwingend Salafist. Seit den 1990er Jahren haben die dschihadistische und die salafistische Ideologie jedoch in einigen Gruppierungen eine Fusion erfahren – namentlich bei Al-Qaida, das wesentlich zur Verbreitung der salafistisch-dschihadistischen Strömung beigetragen hat.
In Deutschland und anderen westlichen Ländern lassen sich Salafisten hauptsächlich der Haraki- und der dschihadistischen Strömung zuordnen; dabei bilden sie durch die spezifischen Kontexte teils andere (Sub-) Kategorien. Politischer Aktivismus ist bei vielen salafistischen Gruppierungen dort weit verbreitet. Traditionelle Salafisten sind in geringerem Umfang zu finden, auch wenn manche sich als solche bezeichnen, aufgrund ihres politischen Engagements jedoch eindeutig nicht zu dieser Strömung passen.
Angesichts dieser Vielfalt sollte der Begriff des Salafismus nicht darauf verkürzt werden, eine gewaltbereite Minderheit zu bezeichnen. Salafisten haben bestimmte Vorstellungen darüber, nach welchen Regeln das Leben zu gestalten ist, die nicht unbedingt mit den Vorstellungen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kompatibel sind. Eine »sicherheitspolitische Herausforderung« ist die Bewegung damit noch nicht. Ob von einer salafistischen Gruppierung eine Bedrohung ausgeht, hängt davon ab, mit welchen Mitteln sie Wandel herbeiführen möchte. Auch der Begriff des Dschihad ist komplex.
Die Interpretationen darüber, was er genau darstellt und welche Pflichten ein Muslim diesbezüglich hat, gehen weit auseinander. Viele Islamisten und Salafisten lehnen Gewalt und Terrorismus als häretisch ab. Dschihadistische Gewaltbereitschaft wiederum muss nicht unbedingt religiös motiviert sein, auch wenn sie oft den Glauben als Feigenblatt vor sich herträgt. Betrachtet man die Biographien der jungen Menschen, die es als Kämpfer in Länder wie Syrien zieht, drängt sich vielmehr der Verdacht auf, dass hier soziale und psychologische Faktoren wie Identitätssuche oder das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung ausschlaggebend sind.
Anja Wehler-Schöck leitet seit 2012 das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Amman mit Zuständigkeit für Jordanien und den Irak.