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Inszenierung von »Hussein« von Omar Abi Azar

»Wir ficken, wie wir sterben«

Feature

Drastisch, poetisch wirkt der Text des libanesischen Autors Omar Abi Azar. Die deutsche Regisseurin Lydia Ziemke setzt ihn in ihrem Stück »Hussein« in Szene, um Helden- und Märtyrertum zu hinterfragen.

Nebel steigt auf. Betörender Frauengesang erklingt. Hinter einem großen Tisch lässt sich eine weibliche Gestalt erahnen. Von der Stimme angelockt, erscheint laut stampfend ein Mann und hievt sich bäuchlings auf den Tisch. Mit wild rudernden Armen und Beinen scheint er sich vor dem Ertrinken retten zu wollen. Das Gladiatorenkostüm entblößt dabei immer wieder sein nacktes Glied.

 

Handyklingeln durchkreuzt die surreale Odyssee des Mannes. Das Publikum dreht sich empört zur Quelle des Klingelns um. Die Projektion des Texts auf dem Tisch läuft weiter: »Ich bin Hussein / Und mein Kadaver / Hängt rum / Zwischen so vielen anderen.« Der Darsteller hält inne und fällt scheinbar aus seiner Rolle. Die Besitzerin des Handys kramt nervös in ihrer Tasche, während der Darsteller auf sie zugeht. »Das ist ein Theater«, sagt er auf Arabisch. Das Wort »Theater« wiederholt er auf Deutsch.

 

Die Realität durchkreuzt das Spiel. Doch nur scheinbar: Die Frau mit dem Handy ist Teil des Stücks »Hussein. Ein Heldenmonolog« von Lydia Ziemke. Realität wird inszeniert. »Alles ist relativ, wenn es um Realität geht«, sagt der Autor des Stücks, Omar Abi Azar, nach der Premiere in Berlin im Gespräch. 2005 schrieb er »Hussein«. Im Februar des gleichen Jahres wurde in seiner Heimat Libanon der damalige sunnitische Ministerpräsident Rafiq al-Hariri ermordet.

 

Das Land ist seither immer wieder Schauplatz von Attentaten. Ein Attentäter, das könnte auch die Hauptfigur in »Hussein« sein. Der Text lässt viel Raum zur Interpretation. »Die Jungfrauen bereiten sich vor / Die Neugeborenen verlieren ihre Puttenallüren / Und sie kochen und explodieren als Märtyrer«, erklärt die Hauptfigur den Zuschauern auf Arabisch. Die Zuschauer sind sichtlich verwirrt.

 

Sie lockt den Durchschnitts-Hussein aus seinem Heldenkostüm

 

Abi Azars Text wird während des Stücks dreimal wiederholt. Zuerst läuft er als stumme Projektion über das weiße Tischtuch des mit Whiskeygläsern gedeckten Banketttischs. Dann spricht ihn der Hauptdarsteller Junaid Sarieddeen in der Rolle des Hussein auf Arabisch. Zuletzt übersetzt ihn die Darstellerin Lucie Zelger, die mit ihrem Handy den Durchschnitts-Hussein aus seinem Heldenkostüm lockte, auf Deutsch.

 

Nachdem das Handyklingeln das Stück unterbrochen hat, fordert Hussein das Publikum auf, sich auf die Bühne zu bewegen. Blutüberschmiert, wie kurz nach einem Attentat steht er in verschwitztem T-Shirt und dreckiger Hose auf dem Banketttisch. Das Gladiatorenkostüm hat er abgelegt. Er ist jetzt kein Held mehr, sondern der Hussein von nebenan. Er leert ein Whiskeyglas nach dem anderen und bietet vereinzelten Zuschauern etwas davon an.

 

Mit dem Alkohol riecht und schmeckt das Publikum die Realität und wird unweigerlich mit Hussein verbunden. Der Alkohol war laut Ziemke notwendig, um den Exzess, den ständigen Wandel von Suggestion und Realität, die Verbindung von Geist und Körper, darzustellen. Und so wird das Publikum eins mit Hussein.

 

Gesichtsschleier und Minirock stellen Stereotype in Frage

 

Steckt Hussein in uns allen? Diese Frage sieht Omar Abi Azar als wesentlich an: »Es geht nicht mehr um Herablassung und Akzeptanz, sondern um einen humanitären Diskurs. Die Leute in Europa schauen auf die Menschen im Nahen Osten als gleichberechtigte Wesen und nicht mehr als Ungeheuer, mit denen sie Mitleid haben müssen« Ähnlich sieht es Ziemke, die in ihrer Inszenierung den Text von der blonden Frau mit dem Handy wiederholen lässt: »Auch sie ist heute Hussein.« »Ich komme zurück / Vom Massaker / Wo ich geboren wurde / Man hat mich verheiratet / Gewaltsam / Mit der, die ich liebe / blond und steril«, erzählt Hussein auf dem Rücken liegend.

 

Über ihm steht die blonde Frau mit dem Handy. Die Projektion mit der deutschen Übersetzung des Texts läuft über die beiden Körper. Hussein fasst der Frau zwischen die Beine. Nur allzu deutlich begegnen sich in der Inszenierung des Texts »Hussein« Ost und West in stereotypen Bildern. Auch die Kostüme entblößen Vorurteile. Die Musikerin Houwaida Goulli, die als singende Sirene Hussein am Anfang des Stücks auf die Bühne lockt, beschreibt ihre Rolle als »Zwischending aus Sphinx und Meerjungfrau«. Ihr Kostüm ist eine Kombination aus orientalischem Gesichtsschleier und engem Minirock. »Im Libanon existiert beides und gerade weil die Dinge ineinander laufen, müssen sie transponiert werden«, meint Ziemke.

 

»Wir alle träumen davon, Mörder und Opfer zugleich zu sein«

 

In »Hussein« kämpfen nicht nur Ost und West miteinander. »Ich heiße Hussein und ich träume davon / Du / Zu sein / Ein Mörder.« Der Kampf zwischen Ich und Du ist offensichtlich und durchaus gewollt. Abi Azar sieht seinen Text im Zusammenhang mit essentialistischer und anthropologischer Philosophie: »Wir alle träumen davon, Mörder und Opfer zugleich zu sein.« Das Menschliche sei ihm wichtig und so werden wir alle zu Hussein, dem Märtyrer. Und trotzdem beginnt das Stück mit sehr deutlichen Referenzen an Helden, wie Odysseus von Homer oder den Gladiator aus Hollywood.

 

»Vielleicht wäre es noch radikaler gewesen, überhaupt nicht an irgendeine Heldensage anzuknüpfen«, meint Ziemke. »Die Hollywood-Inszenierung am Anfang zeigt aber, dass die Geschichte überall spielen könnte.« In der Beschreibung des Stücks »Hussein« wird erklärt, dass Hussein auch für den gleichnamigen schiitischen Märtyrer stehen könnte. Für die Musikerin Goulli unverständlich: »Ich habe diese Verbindung nie gesehen und war eher überrascht, als ich das gelesen habe. Für mich ist Hussein ein stinknormaler Typ. Es könnte jeder sein und ohne den Bezug zu dem religiösen Märtyrertum ist die Sache viel spannender.«

 

Tonnenschwere Geschichtlichkeit

 

Die Regisseurin Ziemke erklärt die Referenz zum schiitischen Märtyrer Hussein damit, dass religiöse oder geschichtliche Assoziationen permanent mitschwingen und deshalb thematisiert werden müssen. Für sie trägt Abi Azars Text eine »tonnenschwere Geschichtlichkeit«: »Man muss sich der historischen Fakten bewusst sein und man darf nicht vergessen, dass wenn wir in Beirut proben, oft 500 Meter weiter eine Autobombe entschärft wird.«

 

Abi Azar hingegen wollte keine Verbindung zu der religiösen Figur Hussein herstellen. Für ihn habe die Frage nach der Existenz eines gegenwärtigen, tragischen Helden im Mittelpunkt gestanden. Die politische Bedeutung seines Texts sei ihm erst später klar geworden. Ziemke kritisiert, dass der Religionskonflikt immer in die Theaterstücke ihrer arabischen Kollegen hineininterpretiert wird.

 

Trotzdem sei es ihr wichtig gewesen, die Dialektik zwischen religiös-traditionellem und heutigem Märtyrerdasein in ihrem Stück darzustellen. Und Goulli fügt hinzu: »In der arabischen Kultur bist du, egal ob du religiös bist oder nicht, irgendwie spirituell. Die ganze Sprache ist spirituell.« Ob Abi Azars Text spirituell ist, bleibt dahingestellt. Sicher aber hallen seine kryptisch, poetischen Worte noch lange nach dem Stück im Gedächtnis des Zuschauers nach: »Wir ficken wie wir sterben / Und dann sterben wir / Und wenn wir sterben / Sterben wir allein / Ohne Leiden / Verfault vor lauter Objektivität / Und gepanschtem Alkohol / Leer und banal / Wie ein Paradies / Eine Wiese / Oder die Farbe der Rosen / Und der Geruch des Erfolges.«


Omar Abi Azar wurde 1983 inmitten des libanesischen Bürgerkriegs geboren. Er ist genauso wie der Hauptdarsteller des Stücks »Hussein«, Junaid Sarieddeen, Mitglied der »Zoukak Theater Company« in Beirut. 2011 trafen er und Lydia Ziemke, die 2009 die »Compagnie suite42« in Berlin gründete, im Libanon zusammen. Es verband sie die Begeisterung für Heiner Müller, die Postdramatik und das politische Theater. Seither arbeiten sie eng zusammen. »Hussein« ist ihre erste Koproduktion, die bereits im Libanon aufgeführt wurde und am 21. November 2014 im Ballhaus Ost in Berlin zu sehen war.

Von: 
Laura Pannasch

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