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Irakische Christen auf der Flucht

Vom Krieg ins Kloster

Feature

Nach ihrer Flucht aus Mossul finden irakische Christen in der Autonomen Region Kurdistan Zuflucht. Enteignet, ohne Ausweise und von Hilfswerken abhängig hoffen viele auf Asyl in Europa. Aus Erbil berichtet Martin Bader.

Auf einer Eckbank im Innenhof eines malerischen Klosters, 20 Kilometer nordöstlich der irakischen Stadt Mossul, sitzt eine vierköpfige Familie vertieft in ein Kartenspiel. »Der Irak ist für mich gestorben«, sagt Nadia Ghanem*, während sie sich mit einem Papiertaschentuch Schweißperlen von der Stirn tupft. Die 45-jährige Krankenschwester ist eine von rund 250 vertriebenen Christen, die im Kloster Mar Mattai Zuflucht fanden. Ghanem floh mit ihrer Familie Anfang Juni 2014 aus ihrer Heimatstadt, als in der Stadt Kämpfe zwischen der irakischen Armee und dem »Islamischen Staat« (IS) Mossul erreichten.

 

»Sobald die Armee die Ausgangssperre verhängte, wussten wir, dass wir aufbrechen müssen. Ein Soldat schmuggelte uns über Nacht aus der Stadt. Wir konnten nur zwei Koffer mitnehmen. Alles andere haben wir verloren.« Seit ihrer Ankunft vor sechs Wochen teilt sich die Familie ein Zimmer im Kloster Mar Mattai. Die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimatstadt hat Ghanem verloren. »Die Nachbarn haben mir erzählt, dass unser Haus mit einem ›N‹ für 'Nasara' [das koranische Wort für Christen] und dem Schriftzug ›Immobilien des Islamischen Staates‹ markiert wurde. Wir kehren nie mehr zurück.«

 

Vor der Machtübernahme durch den »Islamischen Staat« Anfang Juni lebten in Mossul ungefähr 5.000 Christen. Am 18. Juli stellte ihnen der IS das Ultimatum, zum Islam zu konvertieren, eine Kopfsteuer zu bezahlen, die Stadt zu verlassen oder »durch das Schwert« zu sterben. Die überwiegende Mehrheit der verbleibenden Minderheit ergriff die Flucht. Mikhail Ishaq*, ein 28-jähriger syrisch-katholischer Informatiker, konnte nur sein Leben und seine Kleider aus Mossul retten. »Am Kontrollposten nahmen mir die Islamisten alles weg. Meinen Reisepass, mein Geld, meine Armbanduhr. Selbst die Identitätskarte wurde mir gestohlen.« Im Kloster Mar Mattai hofft Ishaq derweil auf die Ausstellung eines neuen Passes. »Ohne meinen Ausweis stecke ich hier fest. Bisher konnten mir die kurdischen Behörden jedoch nicht helfen, neue Papiere zu erhalten.«

 

Kirchen als Transitlager

 

Yohanna Petros Moshe, der syrisch-katholische Erzbischof von Mossul, hat seit dem Ausbruch der Flüchtlingswelle hunderte von Familien beherbergt. Er weigerte sich, seinen Sitz in der irakischen Stadt Karakush zu räumen – selbst als dort Gefechte zwischen den kurdischen Peschmerga-Soldaten und den IS-Kämpfern ausbrachen. Laut Moshe waren Kirchen und Klöster seit jeher die ersten Anlaufstationen für Vertriebene. Dennoch könne von den Kirchen nicht erwartet werden, die Arbeit von internationalen Hilfswerken zu übernehmen.

 

»Wir koordinieren Hilfeleistungen an die Flüchtlinge und bringen Neuankömmlinge vorübergehend unter. Professionelle Hilfsprogramme können wir aber nicht ersetzen.« Ammar Saadallah Siman, ein Priester aus der Stadt Bartella in der Provinz Niniveh, stimmt dem zu. »Langfristig sind die Menschen auf Schulen, Arbeitsplätze und Wohnraum angewiesen. Dies zu garantieren ist jedoch die Aufgabe von Regierungen und Hilfswerken.« Gemäß Siman wünschen sich viele Flüchtlinge, in einer sichereren Region untergebracht zu werden.

 

»Die nächsten IS-Kontrollposten sind hier nur wenige Kilometer entfernt. In einem solchem Umfeld kommen die Menschen nicht zu Ruhe.« Flora Kanna* wurde von der Kirche in eine temporäre Unterkunft zugewiesen. Die etwa 30-jährige assyrische Christin aus Mossul bezog mit ihrer Familie in einem Rohbau am Stadtrand von Karakush eine unmöblierte Dreizimmerwohnung. »In Mossul ging es uns gut. Wir hatten Arbeit, Freunde und waren glücklich. Hier haben wir nichts.« Seit der Flucht plagen Kanna Schuldgefühle gegenüber ihren Kindern. »Ich kann ihnen nicht das bieten, was sie verdienen. Sie fragen mich täglich nach unserem Fernseher.«

 

»Wir erleben die finale Etappe des Exodus der irakischen Christen«

 

Viele der christlichen Flüchtlinge sehen die Autonome Region Kurdistan nicht als Endstation ihrer Reise. »Im Irak haben wir keine Zukunft. Die einzige Lösung ist die komplette Umsiedlung aller Christen ins Ausland«, sagt Youel Rasho*. Der pensionierte Maschineningenieur wohnt seit seiner Flucht aus Mossul bei Verwandten in einem christlichen Vorort von Erbil. »Seit dem Fall des alten Regimes hat sich unsere Situation ständig verschlechtert. Nun erleben wir die finale Etappe des Exodus der irakischen Christen.«

 

Die französische Regierung erklärte am 28. Juli ihre Bereitschaft, irakischen Christen Asyl anzubieten und ihre Aufnahme in Frankreich zu fördern. Rasho hofft, dass weitere westliche Regierungen ähnliche Maßnahmen ergreifen. Gemäß Louis Marcus Ayub, einem syrisch-katholischen Mitglied des Gemeinderats von Karakush, kehren auch viele einheimische christliche Familien ihrer Heimat in Irakisch-Kurdistan den Rücken. »Täglich verlassen rund 100 Familien Karakush.

 

Angst, Wasserknappheit und die wirtschaftliche Entwicklung drängen die Leute nach Erbil oder ins Ausland.« Derweil versucht Informatiker Mikhail Ishaq seine Identität und Glaubenszugehörigkeit zu dokumentieren. Mit Kopien seiner Auszüge des Tauf- und Heiratsregisters, welche Mönche aus Mossul bergen konnten, will er bei der britischen Botschaft in Erbil Asyl beantragen. »Wohin ich mit diesen Papieren reisen kann, weiß ich nicht. Aber zumindest erinnern sie mich immer daran, wo ich herkomme.«

*Name geändert.

Von: 
Martin Bader

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