Als er 2005 Herrscher von Saudi-Arabien wurde, war er bereits 81 Jahre alt. Dennoch hat König Abdullah Bin Abdulaziz sich einen Namen als sanfter Reformer gemacht – in einem ultrakonservativen Land.
Träfen Vorurteile zu, Abdullah Bin Abdulaziz Al Saud hätte nie ein großer König werden können. Irgendwann um das Jahr 1924 herum war er als 15. der 44 Söhne von Abdulaziz Al Saud geboren worden, von einer Mutter, die nicht zu den einflussreichen Frauen des Staatsgründers von Saudi-Arabien gehört hatte. Von Privatgelehrten am königlichen Hof lediglich in die Schriften des Islams eingeführt, erhielt er nie eine moderne Erziehung und erlernte auch nie eine Fremdsprache.
Dennoch wurde Abdullah neben König Faisal, einem Halbbruder, der von 1963 bis zu seiner Ermordung 1975 regierte, zu einem der größten Reformer des puritanisch-strengen Königreichs. Als Fahd, ein weiterer Halbbruder, 1982 den Thron bestieg und ihn zu seinem Kronprinzen berief, war Abdullah außerhalb von Saudi-Arabien kaum bekannt. Fahd erkrankte, und Abdullah leitete 1996 erstmals eine Kabinettssitzung. Rasch wurde der integre Beduinensohn im Königreich beliebt wie lange kein Mitglied der Herrscherfamilie.
Je stärker Fahd an den Rollstuhl gebunden war, desto mehr wuchs Abdullah in das tägliche Regierungsgeschäft hinein. Am 1. August 2005 wurde er König und damit, so der offizielle Titel, »Hüter der beiden Heiligen Stätten« Mekka und Medina. Nun konnte er sich daran machen, gegen den Widerstand der streng konservativen wahhabitischen Geistlichkeit behutsame Reformen und eine Öffnung des Landes einzuleiten. Auch in einer absoluten Monarchie wie Saudi-Arabien herrscht ein König jedoch nicht allein.
Er führt zwar das Land, darf aber nicht seine Brüder und andere Prinzen gegen sich aufbringen. Um das Land zusammenzuhalten, muss er die vielen gesellschaftlichen Strömungen ausbalancieren. Selbst ein Reformkönig verändert ein rückständiges Land wie Saudi-Arabien nicht über Nacht. In seiner Kindheit und Jugend hatte Abdullah viele Jahre in der Wüste verbracht. Das Leben der Beduinen beeindruckte ihn, er schätzte ihre Großzügigkeit und Tapferkeit. König Faisal ernannte ihn daher 1963 zum Kommandeur der Nationalgarde, in der die Nachkommen jener Beduinen vertreten sind, mit denen Abdulaziz zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Großteil der Arabischen Halbinsel erobert und das Königreich begründet hatte.
Sein ganzes Leben zog es Abdullah in die Wüste hinaus, wenn auch später in klimatisierten Allradwagen, die ihn in komfortable Zeltlager brachten. Als Prinz züchtete er Araberpferde, er ging auf Falkenjagd und reihte sich gerne in den Schwertertanz Al-Arda ein.
Der König will in der Welt als Dialogpartner gelten – aber sein Land bleibt autoritär regiert
Gründe für seine Popularität gibt es viele. So verspricht Abdullah nie, was er nicht halten kann. Er spricht offen und versteckt sich nicht hinter diplomatischen Floskeln. Die Gier anderer Prinzen blieb ihm immer fremd. Er kürzte Apanagen und hielt seine Kinder vom Geschäftsleben fern, um zu verhindern, dass sie sich mit ihren Privilegien Vorteile verschaffen. Vielen Saudis gilt Abdullah als ein guter Patriarch, der sich redlich um das Wohl seiner Familie sorgt.
Eine Aura des Väterlichen umgibt ihn. Langsam spricht er, fast mühsam. Ein fesselnder Redner ist er nie gewesen. Abdullah wird oft mit König Faisal verglichen. Beide sind tiefgläubig, aber nicht bigott, belesen in islamischer Theologie, aber jeglichem Fanatismus fern. Faisal hatte daher Reformen gegen den Widerstand der konservativen religiösen Kreise durchsetzen können. Abdullah folgte ihm. Sichtbar wurde der Reformwille des Königs bei der Regierungsumbildung vom Februar 2009, der ersten seit seiner Thronbesteigung knapp vier Jahre zuvor.
Erstmals überhaupt wird seither weder der Justiznoch der Bildungsminister von der Gelehrtenfamilie Al al-Scheich gestellt, die die Nachkommenschaft des Dogmatikers Muhammad Ibn Abdul Wahhab umfasst und die Herrschaft der Al Saud seit Jahrhunderten religiös legitimiert. In beiden Ressorts ersetzte Abdullah Reformverhinderer durch loyale Vertraute. Die Kompetenzen des Hohen Justizrats, der mit Religionsgelehrten besetzt ist, wurden beschnitten.
Zudem tauschte der König 300 führende Bürokraten aus, überwiegend in der Justiz. Die saudische Rechtsprechung wird schrittweise kodifiziert, sodass der Ermessensspielraum der Richter eingeschränkt wird. Das Gewicht des weltlichen Rechts gegenüber der Scharia nimmt damit zu, nicht zuletzt bei Wirtschaftsangelegenheiten. Seit 2010 sind zudem bei Gerichten erstmals Anwältinnen zugelassen.
Wenige Jahre nach der Thronbesteigung zeigte Abdullah erstmals seinen Reformwillen
Eine der wichtigsten Institutionen unter König Abdullah ist der »Nationale Dialog«. Er schuf ihn 2003, noch als Kronprinz. Ein Anliegen ist es, in Saudi-Arabien eine Diskussionskultur zu schaffen, ein zweites, den Boden für Reformen zu bereiten. In den Foren des »Nationalen Dialogs« diskutieren Menschen miteinander, die zuvor nicht miteinander kommunizieren konnten: Männer und Frauen, Sunniten und Schiiten, die vor allem in der Ostprovinz sowie in Teilen Medinas wohnen, liberale Reformer und wahhabitische Ewiggestrige, die Alten und die Jungen.
Wer ausgeschlossen war, findet im Dialog eine Plattform. Am 6. November 2007 wurde König Abdullah auf seinen Wunsch hin im Vatikan von Papst Benedikt XVI. empfangen. Als er auf diesen mit ausgestreckten Armen zuging, war dieses Bild als Botschaft an die westliche Welt gerichtet – und noch mehr an die islamische Welt. Denn in Saudi-Arabien ist es nichtmuslimischen Glaubensgemeinschaften verboten, ihren Glauben zu praktizieren.
Als »Hüter der beiden Heiligen Stätten« und somit inoffizielles Oberhaupt der islamischen Welt wollte Abdullah zeigen, dass er keine Berührungsängste gegenüber Christen hat. Er kam mit einem Schwert – dem Hoheitssymbol Saudi-Arabiens –, das er Benedikt überreichte. Seit zwei Jahren treibe ihn eine Idee um, verriet er Monate später in Riad einem Kreis saudischer und japanischer Intellektueller. Mit Sorge beobachte er die »Krise der Vernunft, der Ethik und der Menschlichkeit«, die die ganze Menschheit erfasst habe.
So schlug er eine interkonfessionelle Konferenz aller großen Religionen vor. Im Juni 2008 sprachen sich unter Abdullahs Augen 600 sunnitische und schiitische Theologen dafür aus, eine Konferenz in Madrid zum Dialog zwischen den Religionen zu unterstützen. In Madrid forderte Abdullah am 17. Juli 2008, es müsse verhindert werden, dass Religion zu Gewalt und Extremismus führe. Anwesend waren mehr als 300 Würdenträger aus allen Weltreligionen.
Der König will international als ehrlicher und ernsthafter Dialogpartner wahrgenommen werden, während er zu Hause eine Entradikalisierung des religiösen Diskurses eingeleitet hat – etwa durch Änderungen in den Schulbüchern und die Entlassung radikaler Prediger. Er bleibt aber ein Wertkonservativer, der dem Verfall religiöser Werte nicht tatenlos zusehen will.
Wann vollzieht die Königsfamilie den Übergang in die Generation der Enkel von Abdulaziz?
In den ersten Jahren seiner Herrschaft schien es, als wolle Abdullah trotz seines hohen Alters die ihm verbleibende Zeit nutzen. Er richtete eine »Agentur zur Bekämpfung der Korruption« ein, gründete die Elitehochschule King Abdullah University for Science and Technology (KAUST), an der Männer und Frauen zusammen studieren, er ordnete eine sorgfältigere Auswahl der Lehrer an und gewährte im September 2011 den Frauen das aktive und passive Wahlrecht – allerdings gibt es in Saudi-Arabien gewählte Institutionen lediglich auf lokaler Ebene.
Mit dem jungen Technokraten Adil al-Jubair entsandte er im Jahr 2007 erstmals kein Mitglied der königlichen Familie als Botschafter nach Washington. Auch in der Wirtschaft achtet Abdullah darauf, dass der Staat nicht weiter wächst und dafür private Unternehmen, auch ausländische, mehr Möglichkeiten erhalten. 2006 ersetzte er den informellen Familienrat durch einen formalisierten »Gelöbnis-Rat« und institutionalisierte das Verfahren zur Bestimmung eines Kronprinzen; im Folgejahr richtete er zudem einen Rat der führenden Ärzte des Landes ein, die den König untersuchen, falls er seinen Amtsgeschäften nicht mehr nachkommen kann.
Abdullahs Absicht war es, eine nochmalige lange Vakanz zu vermeiden, wie sie mit dem zehn Jahre dauernden Siechtum von König Fahd verbunden gewesen war – als Kronprinz Abdullah de facto Regent war, nicht aber König. Dem neuen Rat gehören alle Söhne des Staatsgründers Abdulaziz an beziehungsweise Enkel, die den jeweiligen Zweig vertreten. Nach dem Tod eines Königs schlägt der neue Konig einen Kronprinzen vor – oder aber, wie nach dem Tod von Kronprinz Sultan Bin Abdulaziz am 22. Oktober 2011, der alte König einen neuen Kronprinzen. D
er Rat kann dem Vorschlag zustimmen oder ihn ablehnen und einen anderen benennen. Saudi-Arabien ist nach wie vor ein sehr autoritär regiertes und autokratisch geführtes Land mit nur geringen politischen Freiheiten; Vergehen wie Ehebruch, Drogenhandel oder Gotteslästerung werden mit dem Tode bestraft. Die Rechte der Frauen nehmen zwar zu, sie sind in vielen Lebensbereichen aber weiter eingeschränkt. Auf die regionenweiten Proteste und Umwälzungen des Jahres 2011 reagierten Abdullah und das saudische Establishment denn auch nervös, zumal diese in Saudi-Arabien vor allem in der überwiegend von Schiiten bewohnten, ölreichen Ostprovinz stattfanden.
Obwohl die Kundgebungen klein blieben und nie bedrohliche Ausmaße annahmen, erstickten Sicherheitskräfte die Demonstrationen im Ansatz. Der König schüttete indessen zur Sicherung der Loyalität seiner Untertanen Wohltaten in Höhe von 37 Milliarden US-Dollar aus – einem Viertels des Bruttoinlandprodukts. Die Maßnahmen trugen die Handschrift des damaligen Innenministers Nayef Bin Abdulaziz Al Saud, eines Hardliners in der königlichen Familie.
Auf drei – sehr höflich formulierte – Petitionen, in denen Intellektuelle im Frühjahr 2011 raschere politische Reformen forderten, ging das Königshaus nicht ein. Abdullah ist der fünfte Sohn von Abdulaziz auf dem saudischen Thron. Über ein Dutzend weitere noch lebende Söhne des Staatsgründers könnten ihm folgen – theoretisch. In der Praxis gelten – neben Kronprinz Salman – drei als ernsthafte Prätendenten; der jüngste von ihnen ist mindestens 70. Das liefe auf eine rasche Folge hochbetagter Monarchen hinaus, bei denen eine Weichenstellung für die Zukunft kaum erfolgen dürfte.
Die entscheidende Frage lautet daher, wann sich die Al Saud für den Übergang in die Enkelgeneration entscheiden werden, in der zahlreiche kompetente Technokraten bereitstehen.