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Kandidaten bei den Wahlen in Afghanistan

Das Glas ist halb voll

Feature

Afghanistans Wähler senden auf beeindruckende Weise eine friedliche Botschaft an ihre Führer und an die Welt. Nun liegt es an den Kandidaten, diesen Erfolg nicht zu verspielen. Teil 2 des Wahltagebuchs von Martin Gerner aus Afghanistan.

Am Ende eines Wahltags, der geprägt war von einem für diese Jahreszeit selten kühlen Dauerregen, steht einmal mehr eine Absage an bekannte Stereotypen über Afghanistan. Der Wahltag verlief – zumindest in Kabul – überraschend unaufgeregt. Für den Rest des Landes findet sich – ausgerechnet bei der New York Times – der Hinweis, dass es den Militanten nicht gelungen sein, auch nur einen einzigen größeren Anschlag zu verüben. Die Öffnungszeiten der Wahlbüros waren wegen des großen Andrangs landesweit gerade um eine Stunde verlängert worden.

 

Dann rief mich eine afghanische Bekannte an. Sie würde jetzt mit ihrer Familie in einem der Parks feiern gehen.  Wenn ich wolle, könne ich dazustoßen. Den ganzen Tag haben die Menschen so und ähnlich in vielerlei Weise der Gewalt getrotzt, Mut bewiesen und ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben. Da ist der Autohändler, der mir früh am Morgen von seinem Fuhrpark erzählte, aus dem man ihm in den letzten Monaten über ein Dutzend Wagen geklaut oder beschädigt habe. Der Polizei habe er sich anvertraut. Vergebens. Jetzt hoffe er auf die neue Regierung.

 

Und da ist das Foto jenes Mannes, dem die Taliban vor fünf Jahren den Finger abgeschnitten hatten, nachdem er zur Wahl gegangen war. Nun hat er wieder gewählt. Sein Foto ging über die sozialen Medien landesweit und zeigt die vermutlich hartnäckigsten fünf Finger von Afghanistan.

 

Rege Debatten über Facebook, die ganzen zwei Monate Wahlkampf lang, Tweets und gepostete Videos aus allen Landesteilen im Verlauf des Tages signalisieren über die rein persönliche Anteilnahme der Betroffenen hinaus eine neue Qualität medialer Bewusstseinswerdung – das bezeugen jedenfalls eine Reihe von Afghanen, die mir ihre Stimme leihen. Selbst das landesweite Abschalten sämtlicher SMS-Dienste gestern spät am Abend durch Regierungsseite hat diesen Trend nicht unterbinden können.

 

Die offiziellen Wahl- und Beschwerdekommissionen können sich jetzt warm anziehen

 

Pajhwok, eine führende afghanische Nachrichtenagentur, geht noch am Wahlabend mit einer ersten Stichprobe aus einzelnen Wahlbüros in den Provinzen an die Öffentlichkeit. Kein Anspruch auf Repräsentativität, keine Hochrechnung, aber ganz sicher Ausdruck des Willens nach Transparenz und der Überzeugung, dass es im Angesicht des Krieges mehr denn je einer Presse bedarf, die Druck macht auf die politische Klasse und von dieser Rechenschaft einfordert. Ein Wort, dass mittlerweile einige der Kandidaten selbst im Mund tragen.

 

Sollte die stichprobenartige Stimmauswertung zutreffen, dann sind Ashraf Ghani, der Afghane mit dem Doktortitel von der Columbia University und ehemaliger Finanzminister unter Karzai, sowie Abdullah Abdullah, der unter Karzai anfangs als Außenminister diente, in etwa gleich auf mit 40 Prozent. In dem Fall würde es einen zweiten Wahlgang geben. »Wir haben bewiesen, dass es ein Tag der Wahlzettel, nicht der Urnen war«, kommentierte Ghani, um gleich darauf massiven Wahlbetrug zu beklagen, dessen Opfer er geworden sei.

 

Die offiziellen Wahl- und Beschwerdekommissionen können sich jetzt warm anziehen. Es wird eine Welle parteigesteuerter Klagen über sie hereinbrechen. Spätestens hier beginnt das Minenfeld der afghanischen Politik, mit verbalen, taktischen und menschlichen Untiefen und Wirrungen, vor denen mancher westliche Diplomat in der Vergangenheit die Segel gestrichen hat. Der politische Gegner wird abgeschreckt, nie ohne außer Acht zu lassen, dass man ihn später durchaus noch umgarnen können muss. Ansprüche werden markiert. Truppen in Stellung gebracht, semantische wie reale.

 

Eine Absage auch an die Taliban, die vielleicht die eigentlichen Verlierer des Tages sind

 

Das afghanische Volk hat seine Aufgabe erst einmal erfüllt. Es hat auf beeindruckende Weise eine friedliche Botschaft gesendet an ihre Führer und an die Welt. Eine Absage auch an die Taliban, die vielleicht die eigentlichen Verlierer des Tages sind. Eine Garantie, dass ein möglicher zweiter Wahlgang und die spätere Regierungsbildung friedlich verlaufen, ist dies wohlgemerkt noch nicht. Das Glas ist halb voll.

 

Viel wird nun davon abhängen, inwiefern die möglichen Wahlverlierer ihre Niederlage akzeptieren und dem Machtwechsel tatsächlich das Attribut demokratisch verleihen. Dass es ohne Unregelmäßigkeiten verlaufen würde, hat dabei kein Afghane ernsthaft erwartet. Dennoch macht das Gesamtbild des Wahltags mehr als stolz. Nachdenklich stimmt bei all dem die kümmerliche Präsenz internationaler Wahlbeobachter. Von angekündigten rund 200 Experten haben sich am Ende weniger als ein Viertel in Kabul und dem Rest des Landes eingefunden.

 

Von diesen wiederum hat sich nur ein Teil über die Dauer des Tages in den Wahllokalen aufgehalten. Die Last der unabhängigen Beobachtung und einen wichtigen Beitrag zur Transparenz der Wahl haben – nicht zum ersten Mal – vor allem Tausende von afghanischen Wahlbeobachtern getragen. Unter anderem die Delegation der EU profitiert davon an einem Tag wie diesem. Zwei EU-Wahlbeobachter habe ich am Nachmittag in einem der Wahllokale angetroffen. Zwei mittelalte Frauen. Ausgestattet mit schusssicheren Westen.

 

Afghanische Wahlbeobachter kennen solche Kleidungsstücke nicht. Während das Gebäude der EU-Mission in Kabul verbarrikadiert ist hinter hohen bombensicheren Betonmauern, schreitet man bei einigen der afghanischen Beobachtermissionen durch eine schmale Metalltür, hinter denen keine Bewaffneten warten.

Von: 
Martin Gerner

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