Seit 2003 hat sich die Zahl der Katholiken im Irak halbiert. Die Geistlichen müssen sich einerseits mit den Muslimen arrangieren und zugleich die eigene Position stärken. Der Erzbischof von Kirkuk berichtet zenith von seinem Alltag.
zenith: Herr Sako, kann sich ein Christ im Irak heutzutage sicher fühlen?
Louis Sako: Es ist besser geworden. Vor zwei, drei Jahren, wurde fast jeden Tag ein Christ getötet. Das ist nun nicht mehr so.
Allerdings gab es im August 2011 einen Angriff auf eine syrisch-katholische Kirche in Kirkuk. Inwieweit beeinflusst die Anfeindung gegen die Christen Ihren Alltag?
Das Problem in Kirkuk sind die Spannungen zwischen den politischen und den ethnischen Gruppen. Die Gewalt richtet sich nicht ausschließlich gegen die Christen. Das ist anders als in Mosul und Bagdad. Bei Attacken gegen Kirchen gab es bei uns keine Toten, einige Menschen wurden dabei verwundet. Es gibt einige Kriminelle, die denken, dass das Eigentum und das Leben von Christen illegal sind. Dieses Verhalten wird manchmal politisiert.
Louis Sako,
wurde 2003 zum Erzbischof der irakischen Stadt Kirkuk ernannt. Er ist damit das geistliche Oberhaupt der Chaldäer im Nordirak. Geboren wurde Sakko 1948 in Mosel, er studierte Theologie und Islamwissenschaft in Rom und Paris. Seit seiner Priesterweihe 1974 bekleidete er verschiedene Ämter der syrisch-katholischen Kirche im Irak. 2010 zeichnete die kirchliche Friedensbewegung »Pax Christi« Louis Sakko für seine Versöhnungsarbeit aus.
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Nun verlassen die US-Sicherheitskräfte das Land. Wird das Ihre Situation verschlechtern?
Wir können der Lage nicht trauen. In Kirkuk ist es für Christen sicherer als in Bagdad oder Mosul. Aber mit dem Rückzug der Amerikaner entstehen bei uns viele Ängste – nicht nur unter den Christen, sondern auch bei Muslimen. Noch während der Anwesenheit der amerikanischen Kräfte wurden viele Moscheen und Kirchen attackiert und Menschen umgebracht. Wir sind sehr besorgt, was die Zukunft und was die Einheit des Landes angeht. Wer wird unsere Grenzen beschützen können. Unsere Armee und Polizei brauchen eine bessere Ausbildung und bessere Waffen um die Sicherheit zu verteidigen
Also ist es zu früh, dass die US-Armee das Land verlässt?
Wir müssen abwarten, was passiert. Wir haben die Furcht, dass der Irak zerfällt. Aber wir haben die Hoffnung, dass die Iraker sich selbst verteidigen können.
Dennoch verlassen viele Christen das Land nach Syrien, in den Libanon, in die Türkei – aber auch in Richtung Europa, Amerika oder Australien. Versuchen Sie ihre Gemeindemitglieder zu halten?
Wir versuchen ihnen beizubringen, dass eine Emigration eine große Herausforderung bedeutet. Die Gesellschaft in Europa ist viel individueller. Familiäre Werte sind nicht dieselben wie im Nahen Osten. Ebenso die Mentalität, Sprache und die Kultur. Sie werden isoliert sein. Allerdings kriegen wir dann manchmal zu hören: »Dann müssen wir eben aufgeben, unseren Glauben zu leben, zu Gunsten der Zukunft unserer Kinder.« Wir haben kein Recht zu verhindern, dass sie weggehen. Wenn in Kirkuk doch etwas passieren sollte, dann sagen sie, es sei unsere Schuld oder die Schuld der Kirche. Das ist schwierig.
Bekommt Ihre Diözese in Kirkuk für diese Arbeit ausreichend Unterstützung aus dem Vatikan?
Wir brauchen mehr Solidarität. Die Leute im Irak müssen spüren, dass wir nicht isoliert sind. Wir brauchen eine Maschinerie, die uns dabei unterstützt, unsere Leute im Glauben zu formen. Wir brauchen Leute, die uns ermutigen und uns beistehen. Es geht nicht um materielle Hilfe. Sicher, hin und wieder brauchen wir auch Geld um Familien in den Dörfern zu beschützen oder ihnen wirtschaftlich zu helfen. Aber es geht um mehr: Wir brauchen echte, menschliche Solidarität. Anderenfalls werden die Leute weggehen. Insbesondere den Muslimen können wir zeigen, dass wir keine schwache Gemeinde sind, wenn uns Priester und Bischöfe besuchen. Sie sehen dann, dass wir unterstützt werden, dass wir nicht schwach sind.
»Wir Christen im Nahen Osten müssen aus unseren Ängsten ausbrechen«
Die Menschen Ihrer Gemeinde fühlen sich also isoliert?
Die Sache geht nicht nur uns im Irak etwas an: Das betrifft letztlich alle Menschen. Wir sind eine katholische Kirche und brauchen auch die Unterstützung von den Bischofskonferenzen in der ganzen Welt.
Wie sieht das Nebeneinander von Muslimen und Christen aus? Führen Sie einen interreligiösen Dialog?
Der Dialog ist unser Leben. Wir leben Tür an Tür, wir kennen einander, wir kennen die Mentalität und wir kennen die religiöse Kraft von Christentum und Islam im Nahen Osten. In Europa gibt es einen formalen, akademischen und geistigen Dialog. Wenn Christen aus dem Westen einen echten interreligiösen Dialog wollen, dann sollten sie uns helfen, in Kirkuk den Dialog mit den Muslimen zu führen. Im Nahen Osten können wir einen echten, physischen Dialog führen.
Kann es denn unter demokratischen Verhältnissen ein Nebeneinander von Islam und Christentum auf Dauer geben?
Christen und Muslime treffen sich oft zu freundlichen Diskussionen. Der schlimmste Feind ist die Ignoranz. Wir haben ein gemeinsames Fundament haben, aber müssen auch unsere Unterschiede respektieren. Wir Christen im Nahen Osten müssen aus unseren Ängsten ausbrechen, mutig sein und die Wahrheit erzählen. Wir sind oft zu diplomatisch, wenn wir über unsere Religion sprechen. Die Muslime sind sehr engagiert darin, von ihrem Glauben zu erzählen. Warum machen wir nicht dasselbe? Wir müssen die Wahrheit erzählen, wir glauben an die Trinität, wir glauben an die Göttlichkeit von Christus. Aber wir erklären und verbreiten das nicht. Jede Religion glaubt, dass sie an die Wahrheit glaubt. Das ist okay, aber wir haben müssen das auch sagen können, ohne die andere Religion zu entwerten.
»Heute haben wir die Freiheit aber keine Sicherheit«
Wie kann das gelingen?
Wir müssen unser Vokabular leichter verständlich machen. Manchmal ist es schwierig für uns, die Dreifaltigkeit zu erklären, wenn wir Begriffe der griechischen Philosophie und Logik benutzen. Wir müssen auf die heilige Bibel zurückgreifen um diese spirituellen Dinge zu erklären. Auch die Muslime sollten über ihre Religion nachdenken und daraus entwickeln, was wirklich essenziell und was nebensächlich ist. Wie sollen sie beispielsweise mit den widerrufenen Versen des Koran umgehen (gemeint: Problem der Abrogation; jüngere Koran-Verse ersetzen teilweise ältere Offenbarungen des Propheten, was zu vermeintlichen Widersprüchen im Koran führt, Anm. d. Red.). Das sind Probleme des Glaubens. Aber ich glaube dass ein gegenseitiges Verständnis möglich ist, wenn wir einen starken Willen haben.
Sehen Sie sich auch Konvertierungen zum Islam gegenüber?
Nein, nach dem Zusammenbruch des Systems wurden 905 Christen getötet, 45 Kirchen wurden angegriffen. Aber mir kam nichts darüber zu Ohren, dass Christen zum Islam übergetreten sind. Viele wurden aber entführt und gefoltert.
Ging es den Christen zur Zeit des Baath-Regime im Irak besser?
Nein, unter dem alten Regime herrschte zwar Sicherheit, aber es gab keine Kultur und keine Freiheit. Heute haben wir die Freiheit aber keine Sicherheit. Oft wird der Fehler begangen, zu denken, wir könnten sofort Demokratie durchsetzen. Das geht aber nicht. Die Leute kennen Demokratie und Freiheit nicht und wissen nicht damit umzugehen. Sie brauchen eine Führung. Darum bemühen sich einige islamische Gruppen.