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Krimtataren in der Ukraine

»Wir möchten frei in der Ukraine leben«

Kommentar

Die Krimtataren wehren sich gegen eine Einverleibung durch Russland. Sie schauen auf eine wechselvolle, oft schmerzhafte Geschichte zurück, hoffen auf eine gewaltfreie Demokratisierung der Ukraine – und eine Assoziierung mit der EU.

Timur Kurşut ist Dozent an der KIPU-Universität der Krim-Hauptstadt Aqmescit (ukrainisch: Simferopol). Heute kann er nicht zu seinem Arbeitsplatz am Forschungszentrum für Sprache, Geschichte und Kultur der Krimtataren an der KIPU: Das Stadtzentrum ist gesperrt, Ministerrat und Parlamentsgebäude wurden von irregulären Bewaffneten besetzt, niemand weiß, wer diese Männer sind. Die Flaggen Russlands wurden auf den Gebäuden gehisst.

 

Es heißt, sie seien mit Lkw aus der vorwiegend von Russen bewohnten Stadt Sewastopol gekommen, wo seit Tagen verstärkt russische Pässe und Waffen vergeben werden und prorussische Demonstrationen stattfinden. Kurşut erwartet, dass sich die krimtatarische Bürgerbewegung jedoch nicht provozieren lässt und hofft, dass sich die Zentralregierung in Kiew so schnell wie möglich und intensiv um diese Eskalation kümmert. Doch dort im fernen Kiew gibt es noch gar keine Regierung.

 

Genau dieses Vakuum haben anscheinend die russischen Besetzer in Simferopol für ihre nächtliche Aktion ausgenutzt. Die Medien vor Ort sind bei der Zuordnung der Verhältnisse teilweise erschreckend überfordert. Erst nach einiger Zeit realisierten die deutschen Berichterstatter, dass die Kräfte der »EuroMaidan«-Bewegung auf der Krim vor allem die Tataren sind. Weder der Redaktion von NTV noch anderen großen Stationen schien aufzufallen, dass die Parolen auf den Plakaten oft nicht in kyrillischer Schrift, sondern in lateinischer Schrift verfasst waren. Auf Krimtatarisch, der Sprache der größten Pro-Europa-Kraft der Krim.

 

Heute sind die Krimtataren Minderheit im eigenen Land

 

Durch jahrhundertelange Repression und gezielte Ansiedlung von Slawen auf der Krim, sind die indigenen Nationalitäten der Krimtataren, Karaimen und Krimtschaken eine numerische Minderheit im eigenen Land. Neben rund 60 Prozent Russen leben nur knapp 25 Prozent Ukrainer und 15 Prozent Tataren auf der Krim – neben dutzenden kleinen Volksgruppen wie den Krimdeutschen, Ungarn, Karaimen.

 

Wenn also etwa der Nachrichtensender Phoenix berichtet, dass »die Krim eigentlich schon immer russisches Gebiet war« und mutmaßt, dass »wenn die Tataren jetzt die Regierungsgebäude eingenommen haben, und dabei Menschen ums Leben gekommen sind, zunächst einmal niemand weiß, wie es hier weiter geht«, zeigt dies die Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit deutscher Osteuropa-Korrespondenten.

 

Doch auch Politiker offenbaren ihre eurozentristische Weltsicht und völlige Ahnungslosigkeit. So behauptete etwa Phillip Mißfelder, außenpolitischer Sprecher der CDU: »Die geostrategische Frage der Krim ist für Moskau sehr emotional, da es sich historisch um den Kernbereich Russlands handelt.« Kernbereich Russlands? Schon immer russisches Gebiet? Diese frappanten Äußerungen stehen stellvertretend für zwei grundsätzliche Probleme: Die fehlende mediale Vertretung ausländischer Presse in der Ukraine generell und zweitens die fehlende Perspektive auf die Geschichte Osteuropas durch Medien und Politik.

 

Weißer Fleck Ukraine

 

Dass die Ukraine ein eigener Staat mit durchaus langen Traditionen und Teil Europas ist, setzt sich nur langsam im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit durch. Und dass die Krimtataren eines der ältesten islamischen Völker Europas sind, mit traditionell engen Verbindungen in die Türkei und nach Deutschland, ist trotz einiger Zeitungsberichte der letzten Jahre in Deutschland nahezu unbekannt.

 

Während sich in Moskau dutzende Korrespondenten tummeln würden, ließen sich die mehr oder minder kontinuierlich in Kiew arbeitenden deutschen Journalisten an einer Hand abzählen, kritisiert Andreas Umland von der Nationalen Universität Mohyla-Akademie in Kiew schreibt dazu in einem Artikel mit dem Titel »Weißer Fleck. Die Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit«. »Die ohnedies spärliche deutsche Ukraine-Berichterstattung findet zumeist von Warschau und Moskau aus statt. Spezialisierte deutsche Informationsdienste wie die Ukraine-Analysen (Bremen) oder Ukraine-Nachrichten (Kiew) werden – im Gegensatz zu vergleichbaren Internetprojekten wie den Russland-Analysen (Bremen) oder Russland-Aktuell (Moskau) – nur von einem engen Interessentenkreis genutzt«, so Umland.

 

Diesem Missstand abzuhelfen, kann zumindest ein positiver Nebeneffekt der jetzigen Umwälzungen sein: Viele Veranstaltungen zur Situation in der Ukraine finden derzeit in Deutschland statt. Auch die Krimtataren finden so mehr Erwähnung als in der »Vor-Maidan-Zeit«. Wieviel davon letztendlich nachhaltig den Bekanntheitsgrad des kleinen Volkes steigern kann, bleibt abzuwarten, denn die Reporter-Karawane wird weiter ziehen, die Probleme vor Ort bleiben.

 

Der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt, wurde das ganze Volk dann 1944 in Viehwaggons gen Osten deportiert

 

Um diese Probleme verstehen zu können, muss man sich wohl oder übel die Mühe machen und in die europäische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte zurück schauen. Über tausend Jahre, ab dem siebten Jahrhundert, dominierten Turkvölker das Gebiet zwischen dem heutigen Usbekistan und Moldawien. Nach den Reichen der Awaren, Chasaren, Kiptschaken und Bolgaren prägten die Tataren über drei Jahrhunderte den nördlichen Schwarzmeerraum.

 

Erst Katharina die Große brach mit der russischen Annexion der Krim im Jahre 1783 diese lange Geschichte. Durch Repression, die Russisch-Osmanischen Kriege und die Revolution der antireligiösen Bolschewiki, deren »Rotem Terror« und dem Hunger-Genozid »Holodomor« in den 1930 Jahren schmolz die tatarische Bevölkerung auf die Größe einer Minderheit. Der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt, wurde das ganze Volk dann 1944 in Viehwaggons gen Osten deportiert.

 

Russisches Kernland ist die Krim nie gewesen. Als Machtlegitimation für die russische Idee des dritten Roms spielte sie dagegen immer eine große Rolle. Dank der vielen griechischen Hinterlassenschaften und der subtropischen Südküste galt sie seit der Eroberung als »die Perle des Imperiums«. Erst Nikita Chrustschows Schenkung der Krim als Freundschaftsbeweis der Russen an die Ukrainische SSR machte die Krim zu einer ukrainischen Gebietseinheit. Was zu Sowjet-Zeiten kaum jemanden störte oder eine Rolle spielte, avancierte nach dem Zerfall der Sowjetunion zum Zankapfel zwischen Moskau und Kiew. Immer dazwischen: Die Krimtataren.

 

Deutsch-Krimtatarische Beziehungen älter als Deutschland

 

Historisch eng sind die Beziehungen der Krimtataren zu Deutschland beziehungsweise vorher zum Ordensstaat der Kreuzritter, zu Brandenburg-Preußen und Sachsen seit den 1420er Jahren. Belegt sind über ein Dutzend Gesandtschaften, angestrebte Militär-Allianzen sowie und Anwerbung krimtatarischer Reiter für die Preußische Armee. »Durchlauchtigster Bruder, Herrscher der Europäischen Tataren« nannte der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg den Krim-Khan.

 

Trotz der Annexion der Krim bewahrten sich die Krimtataren durch Zaren- und Sowjet-Zeit hindurch ihre Religion, den Islam, ihre Sprache und Kultur. Aufgrund der massenhaften Auswanderung gibt es heute Krimtatarische Gemeinden fast überall auf der Welt, vor allem in der Türkei (2 bis 4 Millionen), Usbekistan, Rumänien, Bulgarien und Deutschland. Der Weltkongress der Krimtataren hält die Fäden international zusammen und organisiert jedes Jahr zum Tag der Deportation am 18. Mai eine zentrale Kundgebung in Gedenken an den Genozid.

 

Etwa die Hälfte des Volkes wurde 1944 ermordet oder kam durch Hunger, Entkräftung und Kälte zu Tode. Aus jeder Diasporagemeinde ist mindestens ein Vertreter in den Weltkongress gewählt und auch der »Milliy Medschlis« (»Nationalrat«) der Krimtataren auf der Krim selbst hat Diasporaabgeordnete in seinen Reihen. In Deutschland ist der Journalist Ahmet Özay zuständig für krimtatarische Belange. In den letzten Monaten gab es da viel zu tun.

 

Gespräche mit Abgeordneten, Politikern im Auswärtigen Amt, mit der Presse und Politikern des EU-Parlamentes galt es zu organisieren und zu moderieren. Die geschürte Angst der Russen auf der Krim sei völlig unbegründet, so Ahmet Özay: »Wir nehmen niemandem etwas weg. Wir haben nur diese eine Heimat und möchten dort friedvoll mit allen Nachbarn wohnen. Es gab nie Rückgabeansprüche an ukrainische und russische Menschen auf der Krim, die nach der Deportation in unsere Häuser einzogen.«

 

Die deutsche Politik jedoch müsse jenseits von Lippenbekenntnissen aktiver bei der Unterstützung der Krimtataren werden. Willensbekundungen wie im Brief von Joachim Gauck vom November 2013 oder bei Gesprächen im Auswärtigen Amt vor drei Wochen reichten hier nicht aus.

 

Die »großen Brüder« Türkei und Tatarstan

 

Fast kein Treffen des türkischen Premiers Erdoğan mit ukrainischen Politikern kommt ohne Vertreter der Krimtataren aus. Sie sind die Mittler zwischen den Nachbarn am Schwarzen Meer und haben der krimtatarischen Diaspora in der Türkei als auch staatlichen Institutionen dort sehr viel zu verdanken. Umso enttäuschter reagierte deshalb Ali Khamzin, Außenbevollmächtigter des »Milliy Medschlis«, auf die Note des türkischen Außenministers Ahmet Davutoğlu, die dieser am 26. Februar gemeinsam mit dem Präsidenten der russischen Teil-Republik Tatarstan verfasste.

 

Über Allgemeinplätze zur Beruhigung der Lage ging das Statement nicht hinaus. Tatarstans Präsident Rustam Minikhanov ist Wolga-Tatare, mit den kleinen Brüdern auf der Krim hat die wolga-tatarische Politik jedoch so ihre Schwierigkeiten, wenden sich die Krimtataren doch strikt gegen jede russisch-imperiale Attitüde. Die Wolgatataren jedoch sind aufgrund ihrer zentralrussischen Siedlungssituation seit Jahrhunderten russischer Politik direkt untergeordnet und immer zu Kompromissen genötigt.

 

Auch zu den wolga-tatarischen Bewohnern der Krim ist das Verhältnis eher kühl, da es sich dabei oft um ehemalige Sowjetoffiziere und Geheimdienstler handelt. Timur Kurşut hofft, dass die Eskalation seit Ende Februar schnell überwunden wird und die Arbeit an Universitäten und Akademien der Krim wieder aufgenommen werden kann. Er arbeitet derzeit an Projekten zu deutsch-krimtatarischer Geschichte. Geplant sind Konferenzen, Bücher und Dienstreisen nach Deutschland. Auch Dschemile Umerova-Ibragimova, Studentin an der Taurida-Universität Simferopol, hofft, dass sich die Polizei neutral verhält und die separatistischen Bestrebungen und Losungen wieder aufhören.

 

Schließlich leben auf der Krim über 100 Nationalitäten und bisher habe man auch friedlich zusammen gelebt. Der krimtatarische Nationalrat »Milliy Medschlis« hat zusammen mit Staatsanwaltschaft und Sicherheitsbehörden der Krim einen gemeinsamen Krisenstab gegründet um den separatistischen Parlamentsbesetzern konzertiert entgegentreten zu können. Der neue ukrainische Innenminister Arsen Awakow erklärte auf seiner Facebook-Seite, man werde diese Besetzung nicht hinnehmen.

 

Polizei und Truppen des Innenministeriums seien in höchster Alarmbereitschaft. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft leitete ein Verfahren wegen Terrorismus ein. Übergangspräsident Alexander Turtschinow bezeichnete die Besetzer als »Verbrecher«. Er habe den ukrainischen Sicherheitskräften befohlen, die Gebäude zurückzuerobern.

 

»Den Unruhen auf der Krim dürfen wir nicht den Rücken zuwenden!«

 

Zur gleichen Zeit in Brüssel: Emine Bozkurt, EU-Parlamentsabgeordnete der Niederlande, verlangte dort am 27. Februar: »Wir müssen heute klar Stellung beziehen, dass Demokratie und Menschenrechte für alle Ethnien in der Ukraine gelten müssen. Die Achtung der Identität und Sprache der Minderheiten und die nationale Integrität der Ukraine sind strikt zu achten … Die Krimtataren, die sich ihre Rechte auf Bildung, Muttersprache, eigene Kultur und Landbesitz mühsam erkämpft haben, stehen jetzt vor dem Risiko, diese Errungenschaften wieder zu verlieren! Den Unruhen auf der Krim dürfen wir nicht den Rücken zuwenden!«

 

Auch die Intellektuellen auf der Krim bangen um die Zukunft ihrer Insel. Der Hauptdarsteller des Films »Haytarma – Heimkehr«, Achtjom Seytablayev, sagte am 26. Februar zur Situation auf der Krim: »Wir haben keine andere Heimat, dies ist unser Mutterland, wir möchten frei in der Ukraine leben.« »Haytarma« ist der erste abendfüllende krimtatarische Spielfilm, seine Uraufführung in Deutschland fand im Herbst 2013 in Berlin statt, mit dabei waren krimtatarische Studierende aus Deutschland, der ukrainische Botschafter und Gäste von der Krim, unter anderem vom Forschungszentrum an der KIPU-Universität.

 

Ob und wann die deutsch-krimtatarische Zusammenarbeit in Kultur und Wissenschaft weitergehen wird, ist momentan ungewiss. Erst einmal muss sich die Lage auf der Krim beruhigen und stabilisieren, so Ali Khamzin vom Nationalrat in Aqmescit/Simferopol. »Und dafür brauchen wir auch Deutschland!«


Mieste Hotopp-Riecke ist Direktor des Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien (ICATAT) in Magdeburg.

Von: 
Mieste Hotopp-Riecke

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