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Leben in Neubauten in Kairo

Lebenswerte Satellitenstädte

Feature

Führen Megaprojekte im Wohnungsbau zwangsläufig zu seelenlosen »weißen Elefanten«? Das Leben in Ägyptens Satellitenstädten versprüht heute eigenes urbanes Flair – und die Baupläne für »Neu-Kairo« warten mit überraschenden Konzepten auf.

Eines muss man den Ägyptern lassen: Ihre in die Wüste gebauten Satellitenstädte sind heute begehrte Wohnorte mit Hunderttausenden von Einwohnern und der nötigen Infrastruktur. Universitäten, Krankenhäuser, Schulen, Cafés, Märkte, Clubs und Einkaufsmeilen mit Schick aus aller Welt prägen inzwischen ihre verschiedenen Viertel. Mit Clubs sind in Ägypten nicht die Diskotheken gemeint, sondern Parks mit Restaurants und Schwimmbädern, in denen viele ihre Freizeit verbringen, da es kaum öffentliches Grün gibt. Ohne Clubmitgliedschaft kein Sandkasten.

 

Wahrscheinlich können sich die jüngeren Einwohner von Medinat Nasr (»Stadt des Sieges«) heute nicht vorstellen, dass ihr Stadtteil einmal nicht zu Kairo gehörte. In den 1960er Jahren jedoch lagen die grauen Wohnblöcke in der Wüste. Ringsherum nur Leere. Unter Gamal Abdel Nasser als sozialistisches Wohnungsbauprojekt begonnen, ist Medinat Nasr der Vorläufer aller Satellitenstädte in Ägypten. Zunächst zogen diejenigen dorthin, die keine Wohnung mehr in den alten Vierteln von Kairo fanden.

 

Dann folgten jene, die einen Neubau und etwas Straßengrün suchten. Heute ist Medinat Nasr lückenlos zwischen Flughafen und Innenstadt eingebettet. Hier ist es inzwischen kaum mehr möglich, eine Wohnung zu bekommen. Wer einen Mietvertrag aus der Zeit Nassers hat, gibt diesen nicht auf, da die Miete heute nicht wesentlich höher liegt als in den Sechzigern. Daher leben dort heute fast alle Einkommensklassen nebeneinander. Medinat Nasr ist also kein segregierter Stadtteil mit den spezifischen Problemen.

 

Im Gegenteil, mit seiner vielfältigen Sozialstruktur sind ehemalige Vororte wie diese nicht mit den marginalisierten Stadtrandgebieten West-Europas vergleichbar. Mit dem zunehmenden Bevölkerungswachstum wurden Ende der 1970er Jahre im Süden und Osten Kairos die Satellitenstädte »Stadt des 15. Mai« und »Stadt des 6. Oktober« auf dem Reißbrett entworfen. Irgendein junges Mitglied der Familie Hegasy zog immer in eine solche Satellitenstadt, um eine Wohnung für die Familiengründung zu finden. Sie diskutierten lebhaft, wann wohl die ersten Nachbarn kommen würden, und wie lange man sich mit dem provisorischen Spätkauf begnügen müsse. Jetzt sind auch diese Städte mit allen Attributen urbanen Lebens ausgestattet und freie Wohnungen im Zentrum teuer. In den vergangenen 35 Jahren verdoppelte sich die Zahl der Einwohner Ägyptens auf 88 Millionen.

 

Großkairo wächst und ist mittlerweile die größte urbane Agglomeration in Afrika. Die neuen Sehnsuchtsorte junger Familien aus der Mittelklasse heißen al-Tagamua al-Khamis (»Der fünfte Distrikt«), El-Banafseg (»Das Pinke«) oder »Sheikh Zayed City«. Weniger beliebt, weil neu und knapp 50 Kilometer weit draußen sind Madinaty (»Meine Stadt«) oder »El-Shorouk City«. Gleichzeitig entstand im ganzen Land staatlich subventionierter Wohnraum – für alle Einkommensklassen – muss man hinzufügen. Auch hier gab man sich Mühe, Grün- und Spielflächen einzuplanen, aber ihren künstlichen Charakter verloren diese Gegenden nicht immer.

 

In manchen Gebieten wurden getrennte Anlagen mit jeweils 1 bis 5 Zimmer-Wohnungen maximal fünf-stöckig im Abstand von einigen Kilometern gebaut. Eine 3-Zimmer-Wohnung am Rand der südägyptischen Stadt Beni Suef war vor zehn Jahren für eine Anzahlung von 1.500 Euro sowie einer Abzahlungsrate von 12 Euro im Monat über 30 Jahre zu haben. Damals war die Gegend eine Geisterstadt. Heute bietet sie jungen Familien fast alles, was sie sich wünschen: Arbeitsplatz, Kindergarten, Schulen und vor allem eine saubere Umwelt. Nur der öffentliche Nahverkehr ist eine Katastrophe.

 

Für die Superreichen gibt es noch eine andere Variante: Für sie wurden seit den 1990er Jahren sogenannte »gated communities« erbaut, wie Palm Hills, Dreamland, Verde Compound oder Solimania. Noch hapert es auch hier mit der Infrastruktur; viele Straßen sind kaum befahrbar. In Schlangenlinien kommt man irgendwann zur Villa der neuen Besitzer, die zwischen ihrer Stadtwohnung – in Medinat Nasr – und dem Anwesen in Solimania pendeln. Auf Google Earth lassen sich die nierenförmigen künstlichen Seen und zwölf leere Tennisplätze gut erkennen. Eine Apotheke schickt auf Anruf Magen- und Darmmittel.

 

Für Angestellte und Bauarbeiter steht morgens und abends ein firmeneigener Bus zur Verfügung. Aber die Umbrüche von 2011 brachten die Fertigstellung vieler Wohnanlagen erst einmal zum Erliegen. Einige der Bauträger wurden wegen Korruption vor Gericht gestellt, und die neuen Eigentümer fürchteten sich in den leeren Villengegenden. Überhaupt stammt der Reichtum der neuen Mubarak-Oberschicht (militärisch wie zivil) aus Transaktionen wie diesen. Der Staat verscherbelte Land, das von Privatinvestoren aus Politik und Militär entwickelt und mit einer sagenhaften Gewinnspanne verkauft wurde. Dies trifft auf die Urlaubsanlagen am Roten Meer ebenso zu wie auf die gesicherten Wohnanlagen rechts und links der »Cairo-Alexandria Desert Road«.

 

Alternative zu den landfressenden, autoaffinen Vororten?

 

Die im März auf der Investitionskonferenz für Ägypten in Scharm El Scheikh groß angekündigte neue Hauptstadt »The Capital Cairo« 90 Kilometer östlich des Stadtzentrums steht in der Tradition, den starken Bevölkerungszuwachs durch Satellitenstädte aufzufangen. Aber das neue Projekt sprengt die bisherigen Dimensionen: Hier sollen eine Million Wohnungen entstehen. Die Ankündigung, die Regierungsfunktionen in die neue Stadt zu verlegen, zieht fundamentale Fragen zur Aufgabenteilung zwischen neuer und alter Stadt nach sich.

 

Interessant ist, dass der Masterplan von dem renommierten New Yorker Architekturbüro Skidmore, Owings und Meryll (SOM) in Rekordzeit erarbeitet und professionell der internationalen Immobilienwirtschaft präsentiert wurde. Man denkt an die fortschrittsgläubigen Visionen berühmter Architekten wie Le Corbusier, der neue Millionenstädte auf dem Reißbrett entwarf. Für einen Wettbewerb, geschweige denn einen öffentlichen Diskussionsprozess, sah Präsident al-Sisi, der sich als neuer Abdel Nasser versteht, keinen Bedarf.

 

Urbanistisch betrachtet wartet das Projekt mit einigen Überraschungen auf, die im Gegensatz zu den in den letzten Jahren entstandenen landfressenden, autoaffinen Vororten stehen. Erstaunlicherweise taucht auf keiner Perspektive des neuen Kairos ein Auto auf; im Gegenteil wird eine in Ägypten unbekannte Fußgängerfreundlichkeit beschworen. Es wird eine mittlere und hohe Baudichte mit schattenspendenden Baustrukturen genannt, gemischt genutzter öffentliche Räume sowie Wohnungsbau für verschiedene Einkommen versprochen.

 

Die Verbindung zur alten Hauptstadt soll mit einer Schnellbahn erfolgen. Alle wichtigen Schlagworte der globale Stadtdebatte, wie »Smart City«, ressourcenschonend, Resilienz, Energieeffizienz werden genannt. Sollten diese Ideen wie von SOM-Partner Phillip Enquist angekündigt ernsthaft in die weitere Planung seines Büros einfließen, so ist das Projekt der neuen Hauptstadt eine gute Alternative zu den sich in wahllosen organischen und geometrischen Formen über die Wüste ausbreitenden Vororten.

 

Das neue Kairo kann zum weißen Elefanten in der Wüste werden oder zu einer lebenswerten Stadt – diese Option zeigt zumindest der Blick in die Vergangenheit. Ob irgendwann in der neuen Hauptstadt eine demokratisch legitimierte Regierung sitzt oder eine Militärjunta, dürfte langfristig über den Erfolg des Entwicklungsmodells Ägypten entscheiden. 2022 sollen die ersten Ägypter dorthin ziehen können. Ob arm oder reich, auch sie werden sich sicher die Frage stellen: Wann kommen die Nachbarn? 


Ephraim Gothe war von 2011 bis 2014 Staatssekretär für Bauen und Wohnen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt in Berlin. Dr. Sonja Hegasy ist Stellvertretende Direktorin des Berliner Forschungsinstituts Zentrum Moder Orient (ZMO).

 

Von: 
Ephraim Gothe und Sonja Hegasy

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