Im Interview erklärt Libanon-Experte Theodor Hanf, was den Bürgerkrieg charakterisierte, warum er die christlichen Führer Baschir Gemayel und Samir Geagea so unterschiedlich bewertet – und warum der Libanon keinen Sedan-Tag braucht.
zenith: Selbst für viele Nahostkenner ist der Libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 mit seinen vielen Unterkonflikten noch immer ein Buch mit sieben Siegeln: War der Krieg wirklich so undurchschaubar?
Theodor Hanf: Das finde ich nicht. Es gab unterschiedliche Phasen mit unterschiedlichen Konstellationen von Widersachern, die sich gegenüberstanden. Natürlich muss man sich in die Details einarbeiten, aber der Libanesische Bürgerkrieg ist nicht mehr oder weniger verständlich als jeder andere bewaffnete Konflikt. Was ihn deutlich unterscheidet, ist, dass es kein Vernichtungskrieg war. Es gab keine ernsthaften Versuche zur Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen. Der Balkankrieg Anfang der 1990er Jahre etwa war viel schlimmer: In den ersten drei Monaten kamen in Ex-Jugoslawien mehr Menschen ums Leben als während des gesamten Libanesischen Bürgerkriegs. Ähnlich wie vielleicht im Dreißigjährigen Krieg ging es im Libanon eher um Dominanz. Am Ende waren die meisten Gruppen zu schwach, um die anderen zu dominieren, und die Bevölkerung zu erschöpft.
Im Jahr 1982 fielen eine Reihe von Ereignissen zusammen: die israelische Invasion im Juni, der Abzug der PLO aus Beirut, die Vereidigung und die Ermordung von Baschir Gemayel, schließlich das Massaker von Sabra und Schatila im September. Was war so charakteristisch für jene Wochen im Spätherbst 1982?
Der Sommer 1982 stand ganz eindeutig im Zeichen der israelischen Invasion, die Ariel Scharon damals – nach Israels Rückzug aus dem Sinai – vorantreiben konnte. Nicht zuletzt auch, um die offene Präsidentschaftsfrage im Libanon im israelischen Sinne zu beeinflussen.
Sie waren zu der Zeit zu einem Forschungsaufenthalt in Beirut. Wie haben Sie diese Wochen persönlich erlebt?
Das Land war gespalten – insbesondere was die Person des Präsidenten in spe Baschir Gemayel anbetraf. Auf der einen Seite, bei den Muslimen, herrschte Angst vor dem Einzug eines skrupellosen Milizionärs in den Präsidentenpalast, auf der anderen Seite, vor allem bei den Christen, Hoffnung auf einen neuen Typ von Politiker mit einer Vision für den gesamten Libanon. Die Stimmung kippte in den Tagen um die Wahl am 23. August – und zwar zugunsten von Baschir Gemayel. Seine Reden hielt er im libanesisch-arabischen Dialekt und gab sich bei seinen Auftritten sehr volksnah. Damit hob sich deutlich von der politischen Elite des Landes ab – und gewann auch unter den Muslimen eine ungewöhnlich hohe Akzeptanz.
Wir fällt Ihre Bewertung der Person Baschir Gemayels aus?
Baschir Gemayel war ein durchsetzungsfähiger und brutaler Milizenführer. Aber in seiner kurzen Zeit als Präsident kam er der Figur eines Staatsmanns sehr nahe. Insbesondere die Israelis haben das völlig unterschätzt. Ariel Scharon hatte diese Vorstellung, dass Gemayel im Libanon ein christliches Pendant zu Israel aufbauen wollte – ein großes Missverständnis. Für Gemayel war etwa die Palästinenserfrage ein israelisches Problem. Außerdem hat er sich kategorisch geweigert, etwa das mehrheitlich muslimische Westbeirut anzugreifen. Im Übrigen ist die Grundlage für meine Bewertung Gemayels die persönliche Begegnung mit ihm.
Und wie haben Sie Gemayel persönlich erlebt? Sie haben ihn vor seinem Tod mehrmals getroffen.
Er war kein Schwätzer, er sprach die Dinge immer geradeheraus und ohne Umschweife aus – und das auch nicht grob, sondern durchaus mit sehr einnehmendem Charme.
Von diesem übergreifenden Appeal scheint heute nicht mehr viel übrig zu sein. Die Erinnerung an Baschir Gemayel könnte unterschiedlicher nicht sein. Woran liegt das?
Gemayel wird natürlich vom harten Kern der Lebanese Forces extrem stilisiert – fast im Sinne eines maronitischen Barbarossa. Auf der anderen Seite schwärzen die Folgen seines Todes am 14. September 1982 entscheidend die Erinnerung.
Sie meinen das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila vom 16. bis 18. September?
Genau. Es wird zwar zu Recht immer darauf hingewiesen, dass es auch andere Gräueltaten während des Bürgerkrieges gab, wie die Räumung der palästinensischen Lager in Ostbeirut im Jahr 1976, der fast vergessene Lagerkrieg zwischen palästinensischen und schiitischen Milizen von 1985 bis 1988, aber auch die Angriffe von PLO-Milizen auf christliche Dörfer. Aber – und das soll jetzt nicht zynisch klingen –: Die hatten zumindest noch einen erkennbaren strategischen Wert. Sabra und Schatila war nicht nur das brutalste, sondern auch das sinnloseste Massaker des Bürgerkrieges. Es ist und bleibt ein Schandfleck der libanesischen Geschichte.
Der Aufstieg Baschir Gemayels war unmittelbar verbunden mit der Entstehung der Miliz der »Lebanese Forces« Mitte der 1970er Jahre, die noch heute als Partei im politischen Spektrum des Libanon vertreten ist – so wie auch die »Kata’ib«, die von Baschirs Vater Pierre in den 1930er Jahren gegründet worden waren und bis heute von Baschirs Bruder Amin geleitet werden. Das Verhältnis beider Gruppierungen gerade in der Entstehungszeit liegt noch immer im Dunkeln ...
Zunächst hat Baschir nicht die Parteimiliz der Kata’ib des Bürgerkriegs gegründet – das war sein Vater, zusammen mit anderen christlichen Politikern, die 1976 die »Libanesische Front« ins Leben riefen. Baschir und auch sein Bruder, der spätere Präsident Amin Gemayel, leiteten kleinere Milizen, wobei Amin selbst sich sehr früh für eine zivile Karriere entschied und lieber im Familiensitz in Bekfaya im Libanongebirge blieb. Baschir übernahm die Führung der Parteimiliz, nachdem deren Leiter William Hawi im Sommer 1976 beim Angriff auf das Palästinenserlager Tel al-Zaatar ums Leben gekommen war. Daneben gab es aber noch eine ganze Reihe anderer Milizen, zwischen denen die Unterschiede und auch sozialen Spannungen bald recht offenbar wurden. Die »Tiger«-Milizen des ehemaligen Präsidenten Camille Chamoun etwa hatten meist ihr Jura-Kompendium neben der Kalaschnikow liegen – das waren Jungs aus der Oberschicht. Baschirs Anhänger waren einfache Leute aus den Dörfern in den Bergen, sie kamen meist aus den Gebieten, in denen am heftigsten gekämpft wurde. Baschir Gemayel wollte diese unterschiedlichen Milizen »professionalisieren« – im Klartext bedeutete das die Zwangsvereinigung zu den »Lebanese Forces« mit Waffengewalt. Als der Prozess etwa 1980 abgeschlossen war, wollte Baschir aber zunehmend auch politisch agieren – und gründete eine Reihe von Parallelinstitutionen in den Gebieten unter seiner Kontrolle. Dadurch machte er die christlichen Gebiete zwar zu einem einzigen Duty-Free-Shop, aber führte auch etwa eine Mehrwertsteuer, überhaupt eine öffentliche Verwaltung mit quasistaatlichen Dienstleistungen ein. Das haben die anderen Milizen auch versucht, aber Baschir hat es wohl so gut hinbekommen, dass man ihm zugetraut hat, das auch im ganzen Land umzusetzen. Als politische Gruppe traten die Lebanese Forces damals allerdings nicht in Erscheinung, das geschah erst Mitte der 1980er Jahre unter Samir Geagea.
Samir Geagea schien sich Mitte der 1980er Jahre wie aus dem Nichts an die Spitze der libanesischen Christen zu setzen.
Sicherlich profitierte Geagea davon, dass er von allen unter- und geringgeschätzt wurde. Dass er wegen seiner Herkunft aus dem Bergdorf Bcharre im Nordlibanon den verächtlichen Spitznamen »Ziegenhirte« verpasst bekam, quittierten seine Anhänger mit trotzigem Stolz. Dennoch, der Aufstieg von Samir Geagea ist mir immer noch ein Rätsel. Schließlich hat er wesentlich die Reihe von Niederlagen für die libanesischen Christen zu verantworten, die Mitte der 1980er Jahre begann und bis heute anhält.
Was meinen Sie mit Reihe von Niederlagen?
Der Schuf-Krieg gegen die Drusen unter Walid Dschumblatt 1983 – das war kompletter Wahnsinn! Geagea hat die Christen dort als Kanonenfutter verheizt. Für seine Anhänger hat er dort persönlichen Mut gezeigt und Meriten als durchsetzungsstarker Führer erworben, aber er hat dadurch eben auch den Exodus der Christen aus vielen vorher gemischten Gebieten ausgelöst. Noch viel sinnloser war der Kampf gegen General Michel Aoun Ende der 1980er Jahre: Unter Geagea begann der innerchristliche Zermürbungskrieg zu einem Zeitpunkt, als die meisten Libanesen des Krieges überdrüssig waren.
Viele Libanesen, die damals in dem von Geagea regierten »christlichen Kanton« wohnten, erinnern sich aber daran, dass damals zumindest der Müll immer pünktlich abgeholt wurde.
Geagea hat sich als christlichen Führer stilisiert – auch deshalb hat er ja die Lebanese Forces neben der Miliz zur Partei ausgebaut. Aber die Institutionen hatte ja Baschir schon alle eingeführt. Außerdem war die Haupttriebfeder der Loyalität der Bewohner im »christlichen Kanton« ganz eindeutig Angst. Dass sie sich heute lieber an die funktionierende Müllabfuhr erinnern, ist sicherlich auch ein Verdrängungsmechanismus, bei dem man die Schuld für alles Schlechte nach außen abwälzt. Hierbei stehen ihnen freilich die anderen Bevölkerungsgruppen in nichts nach.
Halten Sie die Erinnerung an den Bürgerkrieg für schädlich?
In der Form, in der sie im Libanon praktiziert wird, ja. Es hat Deutschland etwa nicht geschadet, dass wir nicht mehr den Sedan-Tag begehen oder Hindenburgs Sieg bei Tannenberg feiern. Grundsätzlich wäre es begrüßenswert, wenn es statt der Warlords mehr zivile Vorbilder im Libanon geben würde.
Wie haben Sie die Begegnung mit Samir Geagea persönlich in Erinnerung?
Im Gegensatz zu Baschir Gemayel saß da ein Mann vor mir, der die Vision eines Gesamtlibanon ganz eindeutig aufgegeben hatte. Er wollte lediglich alle Christen unter seiner Herrschaft vereinen. In einem Gespräch hatte ich ihn auf die Angriffe seiner Milizen auf konfessionell gemischte Gebiete rund um die Hafenstadt Saida angesprochen. Er versprach mir, dass so etwas nicht mehr vorkommen würde. Kurz danach ging der Beschuss weiter – und der Exodus der Christen aus der Gegend begann. Aus meiner Sicht wollte Geagea möglichst wenig Christen dort lassen, wo sie seinen Gegnern zu Erpressungszwecken dienen konnten – er wollte sie lieber als Kanonenfutter im »eigenen« Gebiet.
Von 1994 bis 2005 saß Samir Geagea im Gefängnis. Heute steht er wieder an der Spitze der Lebanese Forces. Hat er sich verändert oder steckt in ihm noch immer der Warlord der 1980er Jahre?
Das ist eine völlig offene Frage. Samir Geagea saß zu Recht im Gefängnis, das einzig Ungerechte ist, dass die ganzen anderen Milizenführer nicht mit ihm die Zelle teilen mussten. Wobei er ja nie für seine Verbrechen während des Bürgerkriegs belangt wurde. Die Tatsache, dass er – als einziger Milizenführer – für seinen Widerstand gegen die syrisch dominierte Nachkriegsordnung in den Knast ging, hat ihm sicherlich Sympathien eingebracht. Nachdem Geagea zehn Jahre unter der Erde in einer Einzelzelle schmorte, redet er heute wie ein Engel des Friedens. Ich habe ihn seitdem nicht mehr persönlich getroffen. Manche sagen, er habe Kreide gegessen, vielleicht hat er auch ein religiöses Erweckungserlebnis gehabt. In jedem Fall verpasst er keine Gelegenheit, sich als äußerst frommen Politiker zu inszenieren.
Politische Führer, mit christlicher Ikonografie in Szene gesetzt: Ist das typisch für die Lebanese Forces und Samir Geagea?
Das gab es auch schon vor dem Bürgerkrieg. Den früheren Präsidenten Camille Chamoun etwa gab es schon in den 1950er Jahren im Doppelporträt mit der Jungfrau Maria als Hausschrein oder im Taschenformat. Und auch der Führer- und Märtyrerkult ist bei nahezu allen politischen Gruppen im Libanon stark ausgeprägt – siehe zum Beispiel die schiitische Hizbullah.
Sind die Lebanese Forces etwa die »christliche Hizbullah«?
Beide haben einen ausgeprägten Gottesbezug, aber der größte Unterschied ist natürlich das militärische Potenzial. Die Lebanese Forces sind heute keine Miliz mehr. Grundsätzlich aber sind eigentlich alle Konfessionen im Libanon ethnifizierte religiöse Gemeinschaften, deren politische Vertretungen wie Familienunternehmen geführt werden – das gilt für Christen wie Muslime.
Wenn alle unterschiedlichen Konfessionen im Grunde ähnlich konfiguriert sind, ist das nicht eine Grundlage für einen gesellschaftlichen Konsens?
Wenn Sie die Libanesen fragen, sind sie im prinzipiell alle gegen den Konfessionalismus und für einen säkularen Staat. Geht es aber an die Details, stößt man auf Widerstand. Jeder will einen zivilen Staat, aber Zivilgesetzgebung – etwa die Zivilehe – hat es schwer. Der Zustand ist aber auch nicht unerträglich. Die Libanesen haben sich im Großen und Ganzen mit dem System arrangiert und können ganz gut damit leben.
Theodor Hanf,76, forscht seit fünf Jahrzehnten in und über den Libanon. Für sein Buch »Koexistenz im Krieg. Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon« (1990) traf der Sozialwissenschaftler und Politologe in den 1980er Jahren sämtliche wichtigen Milizenführer und Politiker des Zedernstaates. Hanf leitete von 1972 bis 2006 das »Arnold-Bergstraesser-Institut für kulturwissenschaftliche Forschung«.