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Mursi und die alten Garden in Ägypten

Präsident auf dem Prüfstand

Analyse

Trotz guter Umfragewerte misstrauen viele Ägypter Muhammad Mursis Kurs im Umgang mit den Garden des alten Systems. Die Haltung seiner Muslimbrüder droht zudem den Graben zwischen Säkularen und Islamisten weiter zu vertiefen.

An den beiden vergangenen Freitagen füllten Großdemonstrationen linker und liberaler Parteien den Tahrir-Platz. Die Forderungen der Demonstranten unterschieden sich dabei von jenen vorheriger Kundgebungen. Es waren nicht primär die Institutionen des alten Regimes, die im Fokus der Kritik standen, sondern die zunehmende Dominanz der Muslimbrüder und deren Vorherrschaft über die verfassungsgebende Versammlung.

 

Als die Demonstranten am vorletzten Freitag Slogans gegen Präsident Mursi und die Muslimbrüder anstimmten, eskalierte die Gewalt. Anhänger der Muslimbrüder und säkulare Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten, bei denen über 100 Menschen verletzt wurden. Unübersehbar brechen in der postrevolutionären ägyptischen Gesellschaft neue Gräben auf.

 

Großdemonstrationen auf dem Tahrir-Platz vereinten seit dem Sturz Mubaraks oft ein sehr vielfältiges Spektrum der ägyptischen Gesellschaft und verliefen in den meisten Fällen friedlich. Vor der Wahl Mursis zum Präsidenten demonstrierten Linke, Liberale, Muslimbrüder und Salafisten oft nebeneinander gegen den Militärrat und die anhaltende Präsenz von Vertretern der Mubarak-Diktatur in den Institutionen.

 

Doch weniger als drei Monate nach Mursis Kür bröckelt der Kitt. Auch wenn säkulare Demonstranten wie Muslimbrüder sich nach wie vor in ihren  Forderungen nach einer »Reinigung der Justiz« und einem Ende der juristischen Immunität für Mitglieder des Sicherheitsapparats einig sind, wiegt das gegenseitige Misstrauen mittlerweile stark.

 

Kühl kalkulierende Muslimbrüder

 

In den Augen vieler säkularer Ägypter handeln die Muslimbrüder nicht aus Prinzipientreue sondern aus Opportunismus und strategischem Kalkül. Sie unterstellen ihnen in ihrem Bestreben nach Machtausdehnung auch bereit zu sein, mit den Vertretern des alten Regimes zu kooperieren – und dabei die Ziele und Ideale der Revolution nur noch als rhetorisches Feigenblatt benutzen.

 

Verglichen mit den ersten Monaten nach der Revolution, als viele die Rolle der Bruderschaft für den relativ organisierten und disziplinierten Ablauf der Massenproteste während des Umsturzes anerkannten, lässt sich das Auseinanderdriften kaum mehr übersehen. Auf einer Gedenkkundgebung zum Jahrestag des Massakers von Sicherheitskräften an 27 überwiegend koptischen Demonstranten im Oktober 2011, brach sich die Wut gegenüber den Muslimbrüdern Bahn. »Verkauft, Verkauft, verkauft, du hast die Revolution verkauft, Badie!«, skandierten die Demonstranten.

 

Gemeint ist das Vorsitzende der Bruderschaft, Mohamed Badie. Für viele gilt er als der mächtigste Mann innerhalb der Organisation. Einige Parolen setzten die Muslimbrüder gar mit der Mubarak-Diktatur gleich: »Freue dich, freue dich, Hosni Mubarak – Muhammad Mursi macht deinen Job weiter!«

 

Dieser neu aufgebrochene Graben zwischen Islamisten und säkularen Kräften kreuzt die andere große Konfliktlinie im heutigen Ägypten: Jene zwischen den Institutionen des alten Regimes und einer breiten und disparaten Strömung von gesellschaftlichen Kräften – Linke, Liberale, moderate Islamisten, Salafisten – die eine Rundumerneuerung des Staates fordern. Was Säkulare und Islamisten verschiedener Couleur immer noch zusammenhält, ist der Widerstand gegen die anhaltende Präsenz des alten Regimes an wichtigen Schalthebeln der Macht, vor allem in der Justiz und im Sicherheitsapparat.

 

Showdown zwischen Judikative und Exekutive

 

Vom Versprechen eines demokratischen Übergangsprozesses ist die Wahl Muhammad Mursis zum Präsidenten das einzige übrig gebliebene Element. Kurz vor der Verkündung des Endergebnisses der Präsidentschaftswahlen, löste die Justiz das Parlament auf, mit der Begründung, dass unter dem vorgesehenen Drittel an parteilosen Kandidaten zu viele Parteigänger gewesen wären – ein Präventivschlag, der die Macht der Islamisten beschränken sollte.

 

Im ersten frei gewählten Parlament in der Geschichte Ägyptens hielten die Muslimbrüder 40 Prozent, verschiedene salafistische Parteien 25 Prozent der Sitze. Die Auflösung des Parlaments und die regelmäßigen Freisprüche für Sicherheitskräfte, die für Gewalt gegen Demonstranten während und nach dem Sturz Mubaraks verantwortlich waren, zeigen, wie sehr die alte Garde noch Justiz und der Sicherheitsapparat beherrscht.

 

Beispielhaft dafür ist der Freispruch von 24 ranghohen Mitgliedern aus Mubaraks Sicherheitsapparat, die für ihre Beteiligung an einem der blutigsten Tage des Umsturzes, der so genannten »Kamelschlacht« am 4. Februar 2011, vor Gericht standen. Mursi wollte daraufhin den für die Freisprüche verantwortlichen Generalstaatsanwalt Abdel Maguid Mahmoud seines Postens entheben und als Botschafter in den Vatikan versetzen.

 

Der Machtkampf zwischen dem Präsidenten und der alten Mubarak-Justiz trat offen zu Tage, als sich Mahmoud  schlicht weigerte zurückzutreten. Ein Eingriff in die Judikative sei nicht durch Mursis präsidiale Befugnisse gedeckt, argumentierte der Generalstaatsanwalt – demokratische Logik eines Vertreter einer Justiz, die nie selbst demokratisch legitimiert war, sondern der juristische Arm der Mubarak-Diktatur, der nicht den Bürger vor dem Staat, sondern den Staat vor dem Bürger schützen sollte.

 

Das Tauziehen zwischen alter Judikative und neuer Exekutive dauerte zwei Tage, bis Präsident Mursi seine Entscheidung zurückzog. 

 

Der Präsident lotet seine Machtfülle aus

 

Mit Präsidialdekreten alleine kann Muhammad Mursi also wenig ausrichten. Selbst Mursis bisher größter Coup, die Entlassung von Militärrat-Chef Tantawi und Stellvertreter Sami Annan im August, wird von manchem politischen Analysten eher als einvernehmliche Einigung gedeutet: Der Mubarak nahestehende, extrem unpopuläre Tantawi geriet so aus der Schusslinie der Öffentlichkeit und Mursi konnte einen politischen Erfolg feiern.

 

Der Schritt bedeutete jedoch keineswegs eine Abrechnung mit alten Regime-Größen. Tantawi bekommt derzeit als Präsidentenberater sein Gehalt immer noch aus der Staatskasse gezahlt. Auch wenn die Muslimbrüder jederzeit zehntausende Demonstranten mobilisieren können, ist Mursis reale Macht und die seiner Organisation eingeschränkt: Er bleibt ein Präsident ohne Parlament, in einem Land ohne Verfassung, in dem Sicherheitsapparat, Justiz und Behörden von den Kadern des alten Regimes und ein großer Teil der Wirtschaft vom Militär kontrolliert bleiben.

 

In dieser Machtkonstellation wird Mursi durch präsidiale Anordnungen wohl auch künftig versuchen, seine eigentliche Machtfülle auszuloten.  Eine andere Bruchlinie zeichnet sich zwischen den islamistischen und den säkularen Strömungen der Gesellschaft ab und dreht sich vor allem um den zukünftigen Charakter des Staates. Um homogene Blöcke handelt es sich in beiden Fällen nicht. Innerhalb des islamistischen Spektrums etwa wächst die Spaltung zwischen den konservativ-islamischen Realpolitikern der Muslimbrüder und den radikalen Salafisten.

 

Die zahlreichen Blasphemie-Anklagen gegen koptische Christen nähren Befürchtungen

 

Auch unter den säkularen Ägyptern treffen Gegensätze aufeinander: So steht Ex-IAEA-Chef Mohamed El Baradei mit seiner im März gegründeten »Verfassungspartei« eher für einen sozialdemokratischen Flügel, während die neu gegründete Partei der »Volksströmung« des bei den Präsidentschaftswahlen drittplatzierten Hamdeen Sabbahi versucht, die weiter links stehenden Kräfte zu bündeln. Hinzu kommt das Sammelsurium an linken und liberalen Splitterparteien, die formell schon während der Mubarak-Diktatur existierten.

 

Die Linken und Liberalen eint vor allem die Befürchtung, die Muslimbrüder wollten durch ihr Gewicht in der verfassungsgebenden Versammlung den säkularen Charakter des Staates untergraben und die Institutionen graduell islamisieren. Die zahlreichen Blasphemie-Anklagen der letzten Monate, in den meisten Fällen gegen koptische Christen, nähren diese Befürchtungen. Während es zu Mubarak-Zeiten im Schnitt zwei Fälle pro Jahr waren, sind seit der Revolution schon 14 derartige Anklagen ergangen.

 

So wurde der koptische Lehrer Bishoy Kamel wegen angeblicher Verunglimpfung des Korans und des Präsidenten auf seiner Facebook-Seite zu 6 Jahren Haft verurteilt. Sein Anwalt Nageeb Gibrial nannte das Urteil »noch nicht einmal ansatzweise fair«. »Salafisten standen vor dem Gerichtsgebäude und versuchten Bishoy anzugreifen und die Richter einzuschüchtern. Sie drohten damit, koptische Häuser anzuzünden und Bishoys Familie zu töten, sollte er freigelassen werden«, erklärte er. Die Einschüchterung der Justiz durch Islamisten, besonders im Falle von Blasphemie-Anklagen, ist kein Einzelfall.

 

Der Anwalt Magdy Farouk verteidigte vor Gericht die Lehrerin Navine Gad, die von einem 9-jährigen Schüler wegen angeblich verunglimpfender Äußerungen des Propheten angezeigt wurde. »Die meisten Anwälte weigerten sich, diesen Fall zu übernehmen, aus Angst um ihr Leben.« Magdy Farouk erklärte sich erst dazu bereit, nachdem er die Sicherheitsgarantie eines angesehen koptischen Geschäftsmanns erhalten hatte.

 

Zwar wurde Navine Gad schließlich freigesprochen wurde, doch eine Justiz, die auf dem islamistischen Auge blind bleibt, um den Zorn der Radikalen nicht auf sich zu ziehen, bleibt eine zentrale Sorge der säkularen Ägypter.

 

Mursi bleibt populär

 

Trotz dieser Tendenzen stehen laut einer Umfrage des ägyptischen Meinungsforschungsinstitutes Baseera unter 1700 Befragten derzeit 78 Prozent der Ägypter hinter Muhammad Mursi. Diese Zahlen mögen überraschen, schließlich stimmte in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gerade einmal ein Viertel der Wähler für Mursi.

 

Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten ging hingegen gar nicht zur Wahl – Indiz für den wachsenden Verdruss am politischen Übergangsprozess während der anderthalb Jahre währenden Phase der Militärherrschaft. Viele Ägypter sehnen sich nach politischer und wirtschaftlicher Stabilität und sind daher gewillt, Muhammad Mursi eine Chance zu geben. Ob die zustimmenden Umfragewerte für den Präsidenten jedoch mit ähnlich hohen Sympathien für die Muslimbrüder gleichzusetzen sind, ist fraglich.

 

Nach der chaotischen und undurchsichtigen Phase der Militärherrschaft verleiht vielen Ägyptern ein gewählter Präsident den Eindruck eines funktionierenden Staates und ein stärkeres Gefühl von Stabilität. Doch ob Mursi seine Popularitätswerte halten kann, wird nicht nur von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung abhängen, sondern auch davon, ob seine Organisation imstande sein wird, seiner Rhetorik »ein Präsident aller Ägypter sein« zu folgen und so die Befürchtungen der säkularen Ägypter und der Minderheiten zu zerstreuen.

 

Dazu wird es auch nötig sein, sich klar gegenüber den islamistischen Kulturkämpfern abzugrenzen, in deren Ideologie Christen oder liberale Ägypter Feindbilder sind. Sollte Mursi und den Muslimbrüdern dies nicht gelingen, könnte sich der Graben zwischen  Islamisten und Säkularen in einen Kampf um kulturelle Vorherrschaft ausweiten, der auch auf der Straße ausgetragen werden wird.

Von: 
Martin Hoffmann

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