Lat, Manat und Uzza leben zufrieden in Mekka – bis Muhammad auftaucht und Stimmung gegen »Allahs Töchter« macht. Nedim Gürsel vermischt in seinem furiosen Roman islamische Frühgeschichte mit Kindheitserinnerungen aus der Türkei.
Da müht sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten, zuverlässige Zeugnisse über die Entstehung des Islams zusammenzutragen, dreht und wendet unablässig die verfügbaren Quellen und kommt trotzdem nicht recht voran. Was geschah damals in Mekka und Medina? Wie ist der Koran entstanden? Gab es den Propheten Muhammad oder nicht?
Ungeklärte, unklärbare Fragen – nun aber bringt ausgerechnet ein Romanautor Licht in dieses Dunkel. Der französisch-türkische Schriftsteller Nedim Gürsel hat drei Zeitzeuginnen aufgetan, die bestmöglich informiert sind. Sie waren nämlich dabei, damals in Mekka, ja sie waren mittendrin. Gestatten: Lat, Manat und Uzza – die Göttinnen von der Kaaba.
Die Erinnerungen der drei Götzenstatuen durchziehen Gürsels Roman »Allahs Töchter«, der sich aber bei Weitem nicht in der Idee erschöpft, die Geburt des islamischen Monotheismus einmal andersherum zu erzählen – sozusagen aus der Sicht seiner ersten Opfer. Weitere Handlungsstränge tauchen auf, erst allmählich setzt sich so etwas wie ein Gesamtbild des Romans zusammen, der mit furioser Leichtigkeit zwischen den verschiedenen Zeitebenen und Erzählstimmen hin und her springt und dabei eine Reflexion über das emotionale Wesen von Religion anstellt.
Da ist der kleine Junge, der Mitte des 20. Jahrhunderts im Westen der Türkei aufwächst. Er ist offenbar identisch mit jenem Erzähler, der zu sich selbst spricht und von den Kindheitstagen auf dem Land erzählt – das eigene Gedächtnis dabei jedoch fortwährend infrage stellt. Diese narrative Brechung findet sich immer wieder: »Du erinnerst dich jetzt nicht mehr so recht«, grübelt er, fordert sich selbst auf: »Du musst erzählen«, oder räsonniert: »Du hättest dir nie träumen lassen, eines Tages diese Zeilen zu schreiben«.
Zeilen, die die Erlebnisse des Großvaters im Ersten Weltkrieg wiedergeben, den Tod des Vaters mehr verbergen als enthüllen, vor allem aber immer wieder den kindlichen Schauder angesichts der Berührung mit der Religion beschreiben. Der gereifte Erzähler wünscht sich in das »grüne Paradies« dieser Zeit zurück, durch sein Schreiben versucht er, den Verlust der Eltern zu verwinden – im Bewusstsein der Unmöglichkeit dieses Unterfangens.
Auf die Spitze treibt Gürsel das Verfahren, wenn sein Erzähler sich nachträglich eine andere Situation imaginiert: Die Geschichten über den Islam, die er als Kind liebte, hätte er statt vom Imam der Dorfmoschee lieber von einem Gesetzesbrecher in Fes gehört oder von einem blinden Bettler in Marrakesch.
»Ich säße am Fuße einer zerbröckelten Mauer, nachdem ich mich unter die Schlangenbeschwörer und Veranstalter von Rattenrennen, die Heilkräuterverkäufer und Zahnausreißer, die Bettler und die tief verschleierten Frauen gemischt hätte, nachdem ich an den Wasserträgern und Krüppeln vorbeigegangen wäre und an den Schaufenstern, in denen die abgekochten Schafsköpfe grinsten. Ja, ich wollte die Stimmen, die ihre Geschichten erzählten, sich vermischen lassen mit den Geräuschen der fernen marokkanischen Städte, ihrer Stimmen und Atemzüge.«
Stattdessen, so gibt er beschämt zu, müsse er nun an seinem Schreibtisch sogar zu Büchern greifen, um die Erinnerung an die Geschichten des Imams aufzufrischen. Die ständige Distanzierung vom Berichteten funktioniert paradoxerweise, ja, sie rückt die Kindheit des Erzählers in eine ferne, leicht verschwommene Vergangenheit und parallelisiert sie so mit den mythischen Geschichten rund um Muhammad (ebenfalls ein früh vaterloses Kind) – ein weiterer Handlungsstrang.
Noch ein angeklagter Schriftsteller, noch ein Blasphemie-Prozess
Dessen Werdegang setzt Gürsel aus frommen islamischen Legenden – und den nicht ganz so frommen Wortmeldungen von Lat, Manat und Uzza zusammen, die abwechselnd ihre Sicht der Dinge zum Besten geben. Im vorislamischen Mekka führen die drei als Göttinnen verehrten Statuen ein angenehmes Leben: Sie werden angebetet, zu ihren Füßen Tiere und Edelsteine geopfert.
Dennoch sehnt Lat sich in die Oasenstadt Taif zurück, die von Abraham errichtete Kaaba ist für sie »eine dunkle, heiße Hölle«. Auch ahnt sie bereits das drohende Unheil: »Neben Allah, der alles weiß, alles sieht und hört, wird man uns nicht mehr brauchen«, unkt sie; ja man werde sogar sagen, »dass wir in Wirklichkeit nicht Seine Töchter sind«.
Uzza, die vom Jahrmarkttrubel schwärmt und sich gerne einmal von ihrem Lieblingsdichter Imruü’l Kays verführen ließe, winkt ab: »Lüge! Ich kenne die Kureysch. Sie lieben niemanden außer uns.« Und Manat, die mit einer Schere die Schicksalsfäden der Menschen abschneidet, darunter »die der lebendig begrabenen Mädchen, auf deren Flehen sie nicht achteten«, wehrt sich gegen ihren Ruf, zur Unzucht anzustacheln.
Die drei Damen, das wird bald klar, sind keine Unschuldslämmer; blutrünstig sind sie, und ihre Geschichten kreisen hauptsächlich um Sex. Ihre Funktion in dem Roman beschränkt sich jedoch darauf, zu kommentieren und zuzuschauen, wie ihre Stellung mit Muhammads Prophetie allmählich in Gefahr gerät.
Ausgerechnet Muhammad! Der hübsche, etwas verschlossene Muhammad, in den sie – Manat spricht es als Erste aus – heimlich verliebt sind. Die »Satanischen Verse«, die eine Versöhnung mit den drei Göttinnen nahelegen, bleiben ein kurzer Hoffnungsschimmer, sie werden umgehend von Allah widerrufen.
Ist das blasphemisch? Die Lebensgeschichte des »Gesandten Gottes« wird in dem 2008 im Original erschienenen Buch ausführlich – vielleicht etwas zu ausführlich – und durchaus erbaulich-fromm nacherzählt. Ist es blasphemisch, wenn dabei auch Muhammads Gegner zu Wort kommen? Es hat gereicht, um Nedim Gürsel in der Türkei wegen »Verunglimpfung der religiösen Werte des Volks« vor Gericht zu stellen.
Trotz eines zwischenzeitlichen Einspruchs ist das Verfahren anhängig. Der 61-Jährige, der seit Jahren in Paris lebt und als einer der bedeutendsten türkischen Gegenwartsautoren gilt, wandte sich sogar in einem offenen Protestbrief an Premierminister Recep Erdogan, der jedoch ohne Antwort blieb.
Insbesondere stört Gürsel sich daran, dass sich in der angeblich laizistischen Türkei das »Amt für religiöse Angelegenheiten« ein Urteil über sein Buch abgeben durfte. Die Anklage gegen den kosmopolitischen Schriftsteller, der schon mit früheren Werken angeeckt war – damals noch gegen das regierende Militär –, erscheint um so absurder, als Muhammads Biografie und den Stimmen der drei Götzen im Gesamtgefüge dieses Buches nur eine sekundäre Rolle zukommen.
Subtil, aber nachdrücklich bringt Gürsel die religiösen Empfindungen der Kindheit zur Sprache
Das eigentliche Kraftzentrum, aus dem heraus der Roman seine Sogwirkung entfaltet, ist ein anderes: Subtil, aber nachdrücklich bringt Gürsel die religiösen Empfindungen der Kindheit zur Sprache.
Die synästhetische Erfahrung, wenn die Großmutter aus dem Koran vorlas und die fremden arabischen Laute mit der kleinen Stube und dem faltigen Gesicht der Alten zu einem überwältigenden Gefühlsstrom verschmolzen, die »krummen und schiefen Buchstaben« des Heiligen Buches, die Geschichten von Sufis und Heiligen, von Opfergaben und Offenbarungen sowie natürlich die Beschreibungen von Hölle und Paradies – wie dieser nichtrationale Zugang den Sinn für das Religiöse prägt, ist das Leitmotiv des Buches.
Zumal dieser Sinn im Erwachsenenalter verloren geht, wie der Erzähler wehmütig vermerkt: »Dieser Schauder, diese Furcht, diese Hingabe haben nichts zu tun mit deiner gegenwärtigen Sichtweise, dem Standpunkt, den du erreicht hast. Sie stammen aus einer Welt, die vergangen ist, die dich aber immer noch verfolgt ...«
Zu dieser vergangenen Welt gehört vor allem die kindliche Angst vor der Hölle, deren Wächter der Junge sich ein wenig wie die sonnenverbrannten Arbeiter vorstellt, die eines Tages kommen, um die Straßen des Dorfs zu teeren. Aber auch die Präsenz des Großvaters Rahmi Bey, eines gebildeten, gleichwohl gläubigen Mannes, der im Ersten Weltkrieg für das Osmanische Reich im Hedschas kämpfte und Medina gegen die arabisch-britischen Truppen verteidigte.
Der Enkel findet später das Heft mit den Kriegserinnerungen des Großvaters – und erfährt von den religiösen Zweifeln, die diesen in der »Stadt des Propheten« befallen hatten. Rahmi Beys Gedanken über Tod und Sterblichkeit, über den Propheten und die Schlacht von Badr, die an jenem Ort stattgefunden hatte, fügen sich nahtlos ein in diese große Erzählung, die immer wieder auf ein Thema zuläuft: die Doppelnatur von Religion, die die Kraft besitzt, Trost und Zuversicht zu spenden, aber auch das Potential zu Gewalt und Zerstörung in sich trägt.
Letzteres Prinzip zeigt sich sinnbildlich in Lat, die anlässlich der Schlacht von Uhud zwischen den Anhängern Muhammads und den Mekkanern vermerkt: »Als die Muslime und unsere Leute sich gegenseitig umbrachten, war ich begeistert, fühlte Lust in mir aufsteigen und konnte meine Freudenschreie nur mühsam zurückhalten.«
In einem ähnlich grausamen Schlussakkord gipfelt denn auch dieser Roman, diese erhabene Geschichte von Liebe und Opferbereitschaft. Und ganz beiläufig, nur in einem Halbsatz, legt der Autor einen schrecklichen Verdacht nahe, in seinem Buch, das doch eigentlich vom Untergang der Töchter Allahs handelt.