Scharfe Analysen, fundierte Hintergründe – und Bonmots aus 1001 Nacht: Gudrun Harrer legt mit ihrem neusten Buch eine kenntnisreiche Tour d’Horizon über die Auf- und Umbrüche im Nahen Osten vor.
Man darf sich wundern: Gudrun Harrer gehört zu den profiliertesten Kennern des Nahen Ostens im deutschsprachigen Raum. Seit Jahren arbeitet die studierte Arabistin in der und über die Region. Ihr neues Buch hat sie »Nahöstlicher Irrgarten. Analysen abseits des Mainstreams« genannt. Ist dieser Untertitel von den gegenwärtig landauf, landab hervorsprießenden Internettrollen erdacht? Oder handelt es sich um provokantes Understatement? Schließlich gehört der Wiener Standard zu den besten Tageszeitungen, die in Europa tagtäglich verlegt werden und wird auch jenseits der Alpenrepublik gelesen.
Sei’s drum, was zählt ist der Inhalt – und der kann sich, wie zu erwarten war, sehen lassen. Auf knapp 200 Seiten erfährt der Leser Wissenswertes über Iran, den Irak, Syrien und Ägypten sowie die Golfstaaten und Saudi-Arabien – eröffnet durch das »Morsi-Enigma«, eine ebenso kluge wie einleuchtende Erklärung zur Umschrift arabischer Schriftzeichen in den hiesigen Gazetten. Für studierte Islamwissenschaftler mag das ein alter Hut aus dem ersten Semester sein, die Mehrheit dürfte sich beim Lesen indes dabei ertappen, nun erstmals im Ansatz zu verstehen, warum der Name Muammar al-Gaddafis zu seiner Lebzeit in mehr als 99 Varianten abgedruckt worden ist.
Von der Klerikerfamilie Al-Sadr zu selbsternannten »Saudologen«
Besonders eindrücklich werden Harrers Ausführungen, wenn es um das komplexe Gesellschafts- und Politsystem des Irak geht. Kaum verwunderlich, wurde sie doch im Jahr 2006 von der österreichischen Bundesregierung als Sondergesandte des österreichischen EU-Vorsitzes und Geschäftsträgerin der Botschaft Bagdad in den Irak geschickt, wo sie Österreich während der EU-Präsidentschaft vertrat.
Die Genese der Klerikerfamilie Al-Sadr, den schiitisch-sunnitischen Bruderzwist in der Levante und den ersten Giftgaseinsatz des Nahen Ostens – während der »Zweiten Schlacht von Gaza« baute das Britische Empire im Kampf gegen das Osmanische Reich auf diese mörderische Waffe, die jedoch durch den wabernden Wüstenwind in alle Himmelsrichtung verstreut wurde – präzise und gleichsam wortreich zu erklären, somit die Hintergründe für gegenwärtige Brennpunkte darzulegen, ist eine Leistung.
Nicht minder relevant oder interessant sind ihre Abschweichungen zu den »Saudologen«, jenen Experten, welche die undurchsischtige Petro-Dollar-Monarchie von Riad zu deuten versuchen, den zwischen Kerbela und Kairo gesponnenen Verschwörungstheorien und Allmachtsfantasien. Etwa jener von Abdulfattah Al-Sisi, dem Regenten vom Nil. Ausführlich zitiert Harrer aus geleakten Interviews, die bis dato nicht veröffentlicht wurden und die tiefe Einblicke in die Psyche dieses Generals geben, dem zu Ehren die Kairener Konditoren gar Torten mit dessen Konterfei gebacken haben.
In einem dieser Interviews, so Harrer, berichte Al-Sisi, dass er bereits früh Visionen und Träume von seinem glorreichen Aufstieg zum neuen Raïs gehabt habe: »Und einmal trug er im Traum eine Omega-Armbanduhr mit einem grünen Stern, und als er danach gefragt wurde, sagte er: ›Das ist wegen meines Namens Abdulfattah, zwischen mir und Omega ist das Universum.‹« (Fattah ist ein Beiname Gottes, ›der Öffner‹, und Abdulfattah bedeutet ›Knecht des Öffners‹)
Diese und weitere Bonmots, etwa über den Schwippschwager des einstigen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad, die Analyse des iranischen Atomprogramms, über das Harrer in diesem Jahr ebenfalls ein weiteres, wissenschaftliches, Buch veröffentlicht hat, Psychogramme der Dschihadisten in Syrien und Muslimbrüder in Ägypten sowie Ausflüge in die (ur-)alte Geschichte des Vorderen Orients runden den Band ab. Fazit: Man kann nur hoffen, dass Harrers kurzweilige und sprachlich ansprechende Publikation jene große deutschsprachige Leserzahl finden wird, die diese verdient.
Nahöstlicher Irrgarten
Gudrun Harrer
Kremayr-Scheriau, 2014
192 Seiten, 22 Euro