Nur 3 Tage vor der Stichwahl um das Präsidentenamt hat das Oberste Verfassungsgericht in Ägypten zwei wichtige Grundsatzentscheidungen getroffen, die den Demokratisierungsprozess in Ägypten um über ein Jahr zurückwerfen.
Die erste Entscheidung war von den meisten nicht anders erwartet worden: Der ehemalige Premierminister Ahmed Schafik darf auch weiterhin für die Präsidentschaft kandidieren, das »Politische Isolationsgesetz« ist nicht verfassungskonform. Dieses Gesetz war vor einigen Monaten vom Parlament beschlossen worden, um Vertreter der alten Ordnung den Zugang zur neuen Demokratie zu erschweren.
Laut Gesetz sollten Personen, die unter Mubarak in den letzten 10 Jahren als Minister oder Ministerpräsident gewirkt hatten, in den nächsten Jahren nicht für politische Ämter kandidieren dürfen. Das Verfassungsgericht kippte das Gesetz nun, da es willkürlich Personen bestrafe, unabhängig davon ob sie sich tatsächlich schuldig gemacht hätten oder nicht. Überraschender war die zweite Entscheidung. Das im November gewählte, erste freie Parlament Ägyptens wird aufgelöst, weil der Wahlprozess nicht verfassungskonform war.
Die Trennung zwischen Parteikandidaten und unabhängigen Kandidaten war nicht scharf genug. Parteimitglieder konnten auch als individuelle Kandidaten antreten und hatten so einen organisatorischen Vorteil gegenüber echten individuellen Kandidaten. Gerade viele Muslimbrüder haben als individuelle Kandidaten kandidiert. Bei der neuen Wahl werden als vor allem die Muslimbrüder verlieren, die sowieso zurzeit einen ganz schlechten Stand in der Bevölkerung haben. Doch erst einmal muss es zu Neuwahlen kommen.
Der Militärrat hätte also freie Bahn, die Verfassung im Alleingang zu schreiben
Die Auflösung des Parlaments oder besser gesagt die Erklärung des Parlaments für ungültig oder illegal könnte weitreichende Folgen haben. Im Grunde hieße das auch, dass alle Entscheidungen des Parlaments ungültig sind. Die neu gewählte Verfassungsgebende Versammlung ist ein Beispiel. In der Übergangsverfassung ist vorgegeben, dass das Parlament diese wählen soll, für den Fall dass es kein Parlament gibt, bestimmt der Militärrat die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung.
Nun gibt es kein gültiges Parlament, und die von ihnen gewählte Versammlung ist demnach auch ungültig – der Militärrat hätte also freie Bahn, die Verfassung im Alleingang zu schreiben. Und eine weitere Konsequenz erscheint logisch. Wenn die Mitglieder des Parlaments nicht rechtskräftig gewählt wurden und auch ihre Entscheidungen nicht rechtskräftig sind – mit welchem Recht kandidieren dann diejenigen Präsidentschaftskandidaten, die ihre Kandidatur auf die Nominierung durch mehrere Parlamentarier stützen?
Muhammad Mursi, Muslimbruder und ein Kandidat in der am Samstag und Sonntag stattfindenden Stichwahl, hat nicht 30.000 Unterschriften gesammelt wie Schafik und andere, sondern stützt seine Kandidatur auf die Unterstützung durch Parlamentarier. Logischerweise müsste seine Kandidatur hinfällig sein, doch die Diskussion ist noch im vollen Gange. Für heute haben die Muslimbrüder auf jeden große Demonstrationen gegen die beiden Urteile angekündigt.
Aktivisten und alle, die auf einen demokratischen Übergang gehofft haben, sind maßlos enttäuscht. Nicht nur, dass Vertreter des alten Regimes in der vergangenen Woche nicht für das Töten von Demonstranten, für jahrelange Folter und Korruption verurteilt wurden, auch gibt es immer noch keine Verfassung, nicht mal eine funktionierende Verfassende Versammlung, die Präsidentschaftswahlen sind eine Schau mit Wahlfälschungen und einem Kandidaten des alten Regimes, der höchstwahrscheinlich gewinnen wird – nun wird auch noch das Parlament aufgelöst und eine Neuwahl ist nicht in Sicht. »
Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir zuerst eine neue Verfassung brauchen und dann Wahlen stattfinden können – nicht anders herum, wie es gemacht wurde«, so ein junger Aktivist. Man stehe wieder ganz am Anfang, viele fragen sich, was denn die Ergebnisse der Revolution seien. Nichts sei erreicht, man brauche eine zweite Revolution.