Einen Tag nach den ersten Ergebnissen der Parlamentswahlen in Marokko akzeptieren die meisten unabhängigen Zeitungen die neue Kraft der islamischen PJD – und die linken Blätter entdecken plötzlich ihre Liebe zum König.
Die meisten Marokkaner schauen beim Frühstück (und beim Abendessen) aber Fernsehen. Was auf den Bildschirmen an diesem Wochenende geboten wird, ist dennoch alles andere als unterhaltsam. Stundenlang flimmern die Fotos von zukünftigen Abgeordneten vor dem kauenden Volk, dazu erzählt die Moderatorin der Nachrichtensendung, dass die Wahlbeteiligung von 45 Prozent der beste Beweis sei, dass Marokko ein demokratisches Land geworden ist. Sie verkündet, dass die US-Außenministerin Hilary Clinton schon gratuliert hat und nun der König für seinen Reformmut zu beglückwünschen sei. Zum Glück besitzen fast alle Marokkaner – auch die armen unter ihnen – eine Sattelitenschüssel und sind nicht auf die nationale Grundversorgung an Fernsehprogrammen angewiesen.
Die vielen marokkanischen Parteizeitungen konzentrieren sich einen Tag, nachdem die gemäßigten Islamisten der PJD mindestens 80 von rund 300 Mandaten gewonnen haben, auf Schadensbegrenzung. Auf den Internetseiten der sozialistischen Liberation und des Schwesterblatts al-Itihad al-Ischtiraki ist zum Beispiel weder Meinung noch Wahlanalyse zu lesen. Dort geht es eher um Sport und eine Milliardeninvestition aus Katar in die marokkanische Tourismusindustrie. At-Tajdid, die Parteizeitung der PJD feiert ihren Sieg dagegen als echten »Politikwechsel«, es sei ein »beruhigendes Ergebnis, dass die PJD die anderen Parteien weggefegt hat«.
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Der Chefredakteur Fahd Yata der Mitte-Links-Zeitung La Nouvelle Tribune macht mit den Ergebnissen der Wahl in seiner »Schnauzbartkolumne« kurzen Prozess: Die radikalen Islamisten der verbotenen »Al-Adl wa al-Ihsan«-Bewegung und die radikalen Linken der Reformbewegung »20. Februar« seien mit ihrem Wahlboykott gescheitert, Marokko bekomme von nationalen und internationalen Beobachtern sehr gute Noten und sei nun ein demokratisches Land, der Wahlsieg der PJD sei mit Blick auf das Ende der jahrzehntelangen Herrschaft der immer gleichen Parteien ein bisschen leichter zu verkraften. Den Artikel des inoffiziellen Hofblatts Le Matin kann man noch pointierter resümieren: Alles super gelaufen, lang lebe der König.
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»Wie ein Tsunami« und »wie ein Erdbeben«
Die größte Tageszeitung Marokkos macht natürlich auch mit dem Sieg der PJD auf und zitiert ihren Generalsekretär Abdelilah Benkirane: »Wir haben die Wahl wie ein Tsunami überrollt«. Die unabhängige Al-Massae zitiert auch andere Größen der zukünftigen Regierungspartei, dass das Potenzial der PJD viel größer sei, nur das komplizierte marokkanische Wahlsystem hätte eine absolute Mehrheit sabotiert.
Der König könne aber den »vorlauten PJD-Generalsekretär« als Premierminister verhindern und sich eine andere nicht allzu polarisierende Person in der Partei suchen. Dennoch, eins sei sicher: Die Koalition der »G8« sei nach diesen Wahlen Geschichte. Die acht größten Fraktionen im Parlament – von der konservativen Unabhängigkeitspartei, bis zu den Sozialdemokraten – hatten seit Jahrzehnten die Ministerposten unter sich ausgemacht. Damit sei es nach dem Aufstieg der Islamisten vorbei.
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Wer sich die boulevardeske Zeitung Al-Ahdath Al-Maghribia kauft, kann dort ebenfalls Katastrophenvokabular nachlesen: »Der Sieg der PJD, das ist ein Erdbeben, das unser Land erschüttert«, titelt die Zeitung, die in der Vergangenheit mit Sensationsgeschichten mit so einigen Moralnormen gebrochen hatte. Zwar hätte sich laut Ahdath die politische Klasse in Marokko auf einen Sieg der PJD eingestellt, dass so viele Sitze »verloren« gehen würden, hätte die meisten aber dann doch kalt erwischt. Das gute Abschneiden der Islamisten sei aber nicht nur ein Resultat deren Stärke, sondern vor allem eine logische Konsequenz aus der Schwäche der alten Parteien, vor allem am rechten Rand.
Weiter analysiert das Boulevardblatt, dass Marokko einer »mediterranen Welle des Außen-Rechts zum Opfer gefallen« sei. In Tunesien sei es die Nahda, in Libyen der islamgeprägte Nationale Übergangsrat, in Spanien die Partido Popular, die die Sehnsucht der Menschen nach einer neuen Politik verkörpern. Doch in Marokko wird sich die PJD daran gewöhnen müssen, dass sie sich in einer Koalition mit einigen der alten Regierungsparteien schnell an die politische Kultur in Rabat anpassen muss. Fundamentalopposition und leere Versprechungen seien nun nicht mehr möglich.
www.ahdath.info
Die Linken setzen auf den König
Die Wirtschaftzeitschrift La Vie Éco schaut ebenfalls auf die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen in Rabat. Während die Unabhängigkeitspartei kurz nach den ersten Prognosen und als zweitstärkste Kraft mit mindestens 45 Sitzen im neuen Parlament sich der PJD schon angeboten hat, zögern die anderen großen Parteien – vor allem die Sozialdemokraten mit mindestens 29 Sitzen – sich auf eine Koalition mit den Islamisten einzulassen. La Vie Éco ist aber der Überzeugung, dass die so genannte »Koutla« also die Allianz aus den acht Dauerregierungsparteien sich treu bleiben wird, ob in der Regierungsverantwortung oder auf der Oppositionsbank.
www.lavieeco.com
Im Éditorial der unabhängigen Zeitung Aujourd’hui le Maroc wird der Leser nochmals an die Ursprünge der Verfassungsreform und der vorgezogenen Parlamentswahlen erinnert: »Es ist der Arabische Frühling, der uns das, was wir nun erleben, gebracht hat.« Dass es in Marokko nie dazu kommen wird, dass die Menschen zu Millionen auf die Straße gehen, war schon immer klar. Dass mit der Wahl am 25. Februar weiter ein Schritt gen mehr Pluralismus und Demokratie gemacht wurde aber auch. In Marokko könnten alle politischen Kräfte an der Gestaltung des Landes mitwirken, mit der neuen Verfassung werden nun auch die Islamisten nicht mehr von diesem Recht und dieser Verantwortung ausgeschlossen. Die Marokkaner hätten sich mehrheitlich für eine friedliche Transformation ihres Landes entschieden, so dass aus dem Königreich vielleicht sogar wirklich eine »Ausnahme im positiven Sinne« wird.
www.aujourdhui.ma
Die unabhängige, linke Zeitung An-Nahar Al-Maghribia setzt ihre ganze Hoffnung auf König Mohammed VI. Vor einigen Monaten hätten die meisten Redakteure der Zeitung noch auf der Straße mit den anderen Aktivisten der Reformbewegung »20. Februar« gegen das System demonstriert. Nun sei auch ihnen klar geworden: Die Marokkaner lieben ihren König und Marokko, das ist das Königreich von Mohammed VI. und das würden fast alle Marokkaner gut finden, weil sie ihren König ja lieben.
Und viele Marokkaner, die den Weg zu den Wahlurnen gefunden hätten, hätten ihre Stimme den Islamisten gegeben. Die mit einem immensen Finanzierungsvorsprung aus dem Ausland – so ist sich die linke Zeitung sicher – ja nur gewinnen musste. Oder wie seien die ganzen PJD-Kader und Wahlkämpfer an die vielen »Merchandising-Produkte und an die Handyflatrates zur unbegrenzten internen Kommunikation gekommen?«, fragt An-Nahar Al-Maghribia. Wie auch immer kommen auch die linken Redakteure in ihrem Gemeinschaftskommentar auf den »Tsunamisieg der Islamisten« zurück: der König wird danach schon aufräumen. www.annahar.ma