Jordaniens Parlament wird jünger, weiblicher und parteipolitischer. Doch das Vertrauen der Bürger in den politischen Prozess bleibt begrenzt. Im Schatten des Gaza-Krieges wurden die Muslimbrüder zur stärksten Kraft.
»Wohin geht Deine Stimme – an diejenigen, die mit dem Widerstand sind oder an diejenigen, die für Normalisierung einstehen?« Kurz vor den Parlamentswahlen rollten die Wahlstrategen der Islamischen Aktionsfront (IAF) ein neues Plakat mit dieser Frage aus, die das Verhältnis zu Israel in den Mittelpunkt stellt. Ihre ganze Kampagne hatte die Partei der jordanischen Muslimbrüder auf die Solidarität mit den Palästinensern ausgerichtet, auf den Krieg in Gaza und die Bedrohung, die Israel mit seinen vermeintlichen Expansionsplänen auch für Jordanien darstelle. Als zwei Tage vor der Wahl ein jordanischer Lastwagenfahrer am Grenzübergang drei Israelis erschoss, rückte das Thema – das die Jordanier seit fast einem Jahr umtreibt, aber eben mittlerweile auch ziemlich erschöpft – schlagartig wieder ganz nach oben auf der öffentlichen Agenda.
Als einzige der größeren jordanischen Parteien begrüßte die IAF in einer öffentlichen Erklärung die »heroische Tat« des Maher Al-Jazi, die im Gegensatz zum »beschämenden offiziellen arabischen Nichtstun« stünde. Während ihre Vertreter bei Ehrenmärschen für den Attentäter in der Hauptstadt Amman vorneweg liefen, fand am Vorabend der Wahl im südjordanischen Ma’an eine große Trauerfeier statt. Von dort stammte der Ex-Militär, noch dazu aus einem der alteingesessenen transjordanischen Stämme, den Howeitat, die eine historische Loyalität mit dem haschemitischen Königshaus verbindet und die seit jeher stark in der Armee vertreten sind.
Tags darauf zeigte sich dort, wie brüchig die verbreitete Annahme ist, wonach die Muslimbrüder und ihre extreme Palästina-Fokussierung vor allem bei palästinensisch-stämmigen Jordaniern verfangen. Diese sind in den städtischen Ballungszentren Nord-Jordanienes ansässig. Im von traditionellen Stammesstrukturen dominierten Ma’an erhielt die Parteienliste der IAF über 12.600 Stimmen, fast fünfmal so viel wie für die dort zweitplatzierte Parteienkoalition.
Die gemeinsame Liste der Sozial- und Liberaldemokraten verpasste den Sprung über die 2,5-Prozent-Hürde und stellt keinen einzigen Abgeordneten
Auch landesweit ist das Abschneiden der Muslimbrüder, die von den mächtigen Sicherheitsbehörden und den Herrschaftseliten des Landes kritisch beäugt werden, die vielleicht größte Überraschung dieser Parlamentswahlen. Zwar galten sie lange als die am besten organisierte Partei Jordaniens. Doch seit König Abdullah II. im Sommer 2021 eine Initiative zur »politischen Modernisierung« lancierte, entstanden – durchaus auch mit freundlicher staatlicher Unterstützung – neue Zentrumsparteien, die in kurzer Zeit Tausende Neumitglieder, darunter renommierte politische Persönlichkeiten, für sich gewinnen konnten.
Es reichte aber selbst für die bekanntesten unter ihnen nur für den zweiten und dritten Platz: Die national-konservative »Partei der nationalen Charta« (Al-Mithaq) schafft es lediglich dank zahlreicher Direktkandidaten, die nicht unbedingt unter ihrem Parteibanner angetreten waren, auf 30 Sitze, die national-liberale Irada-Partei kommt auf 19. Mit 31 Abgeordneten wird die IAF knapp die stärkste Kraft im jordanischen Unterhaus, das insgesamt 138 Sitze umfasst.
Blickt man auf die bei diesen Wahlen erstmals eingeführte Zweit- beziehungsweise Parteienstimme (in Ergänzung zur Erststimme für einen Direktkandidaten im Wahlkreis) wird der Vorsprung der IAF noch deutlicher: Von den 1,6 Millionen Wählern machten dort 464.350 ihr Kreuz bei den Muslimbrüdern, die zweitplazierte Al-Mithaq kam auf 93.680 Stimmen. Die gemeinsame Liste der Sozial- und Liberaldemokraten, die sich für individuelle Freiheiten und einen modernen säkularen Rechtsstaat stark machte, verpasste dagegen den Sprung über die 2,5-Prozent-Hürde und stellt keinen einzigen Abgeordneten.
Die neuen Parteien der politischen Mitte hatten sich durchaus Mühe mit ihrer Programmatik und einem bürgernahen Wahlkampf gegeben
Dass die Wahlbeteiligung mit 32 Prozent nur einen leichten Anstieg um zweieinhalb Prozent verzeichnetete, ist ein weiterer Grund für das Ergebnis der IAF, die ihre eingeschworenen Anhänger immer schon gut mobilisieren konnte. In der Hauptstadt Amman hingegen, in der auch die eher liberale und international orientierte obere Mittelschicht zu Hause ist, konnte sich nur jeder Fünfte zur Stimmabgabe durchringen. Wer seine Unzufriedenheit mit dem Status Quo zum Ausdruck bringen wollte, blieb entweder zu Hause oder wählte Protest – wofür sich die zwar in Jordanien nicht grundlegend systemfeindlichen, aber doch regimekritischen Muslimbrüder offensichtlich anboten.
Die neuen Parteien der politischen Mitte hatten sich zwar durchaus Mühe mit ihrer Programmatik und einem bürgernahen Wahlkampf gegeben. Durch das Aufstellen zahlreicher parteipolitisch lediglich neu angestrichener Politik-Veteranen konnten sie allerdings oftmals nicht das Gefühl von Aufbruch vermitteln, nach dem sich viele Jordanier sehnen. Nimmt man die Gesamteinwohnerzahl des Landes von über zehn Millionen in den Blick, wovon rund die Hälfte wahlberechtigt war, und geht von einer außergewöhnlich hohen Mobilisierungskraft der IAF bei diesen Wahlen aus, wird wiederum deutlich, dass die Muslimbrüder in Jordanien eine ideologische Minderheit bleiben.
Das Wahlergebnis mag dennoch so manche – nicht nur autoritäre Hardliner aus den Untiefen des Staatsapparates – darin bestätigen, dass die köngliche Idee einer schrittweisen Parlamentarisierung der jordanischen Monarchie ein Holzweg ist, der islamistische und populistische Strömungen stärkt und damit die allseits geschätzte Stabilität des Landes in Gefahr bringt. Doch auf der Habenseite stehen erfolgreich durchgeführte Wahlen, deren Professionalität auch die EU-Beobachtermission umgehend bestätigte (wennglich sie Verstöße bei der Wahlkampffinanzierung sowie Selbstszensur im Wahlkampf aus Angst vor Strafverfolgung bemängelte).
Auch die siegreichen Muslimbrüder werden an Diskurs-, nicht aber unbedingt an politischer Gestaltungsmacht gewinnen
Der neue Rechtsrahmen, der Parteien eine Schlüsselrolle zuschreibt, hat seine Feuerteufe bestanden, die politische Landschaft sich neu sortiert. Im Parlament sind mehr Frauen (nämlich 27), junge Abgeordnete (sechs unter 35 Jahren) und Parteimitglieder (rund 100) als jemals zuvor in der jüngeren Geschichte des Landes vertreten. Trotz eines komplizierten Wahlsystems und einigen bürokratischen Hindernissen bei der Wählerregistrierung stieg die Wahlbeteiligung, bei den Jungwählern sogar überdurchschnittlich. Jenseits der IAF und der Parteien des Establishments konnten sich einige frische Reform-Kräfte durchsetzen, wie die Fortschrittspartei (Taqqadum), die sich für mehr Dezentralisierung einsetzt und aus dem Stand acht Abgeordnete stellt.
Die Veränderungskraft dieser Wahlen war von vornherein und bleibt auch im Nachgang begrenzt – dafür sind die Machtbefugnisse des Parlaments in Jordanien zu schwach. Zudem verhindern die politische Kultur und das Wahlrecht absolute Mehrheiten. Auch die siegreichen Muslimbrüder werden an Diskurs-, nicht aber unbedingt an politischer Gestaltungsmacht gewinnen. Ihre Gegenkräfte sind im Parlament, aber auch in der Gesellschaft und in den staatlichen Institutionen nach wie vor dominant. Mit seinem langjährigen Büroleiter und Stabschef Jafar Hasan hat König Abdullah II. bereits wenige Tage nach der Wahl einen engen und auf internationalem Parkett versierten Vertrauten zum neuen Premierminister ernannt. Bei der Zusammenstellung der Regierung gibt in Jordanien also nach wie vor der Monarch den Ton an, selbst wenn bei der Auswahl der Minister nun Gespräche mit den Parteien geführt werden und – jedenfalls formal – die neue Regierungsmannschaft dann ein Vertrauensvotum im Parlament benötigt.
Entscheidend wird vielmehr sein, ob den Parteien in den nächsten Monaten und Jahren staatlicherseits der Raum gegeben wird, den sie für ihre Fortentwicklung benötigen. Auch wird es eine Stärkung bürgerlicher Freiheiten brauchen, um dem politischen Reformprozess Glaubwürdigkeit zu verleihen und das Vertrauen der Bürger dafür zu gewinnen. Dann kann die diesjährige Parlamentswahl in Jordanien ein Signal dafür sein, dass der derzeit oft beklagte Rückzug der Demokratie – selbst in diesen Zeiten und in dieser Region – noch lange keine ausgemachte Sache ist.
Dr. Edmund Ratka leitet seit November 2020 das Auslandsbüro Jordanien der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Der Politikwissenschaftler arbeitete zuvor in der Nahost-Abteilung der KAS in Berlin, im KAS-Auslandsbüro Tunesien sowie an den Universitäten München und Passau.