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Religion in den Universitäten in Tunesien

Der Stoff, der die Gesellschaft teilt

Feature

In Tunis tobt seit Monaten ein Streit um vollverschleierte Studentinnen. Die Leiter der Universitäten haben den Niqab auf dem Campus verboten – und stoßen auf massiven Widerstand von radikalen Salafisten.

Wenn Arwa Ben Hammouda den Campus betritt, dann richten sich viele stumme Blicke auf sie. Denn die junge Frau fällt auf. Nicht mit einem besonders kurzen Rock oder ungewöhnlich gefärbten Haaren. Sondern dadurch, dass von ihrem Äußeren gar nichts zu sehen ist. Ein langer Mantel verhüllt ihren Körper. Das Gesicht der 20-Jährigen verbirgt sich hinter einem Niqab. Nur ihre Augen sind zu erkennen, durch einen Schlitz zwischen den Tüchern.

 

Seit mehr als zwei Jahren erhitzen Mädchen wie Arwa die Gemüter der Tunesier. Es geht um nichts weniger als ein Stück Stoff. Arwa gehört zu den Studentinnen an der Universität von Manouba in Tunis, die sich mit einem Niqab komplett verschleiern. Ob das an der Universität erlaubt ist, bleibt allerdings umstritten. Zu Beginn des neuen Semesters stehen sich säkulare Kräfte und solche, die den Islam radikal oder konservativ interpretieren, unversöhnlich gegenüber. Und alles deutet darauf hin, dass der Streit erneut eskalieren könnte, so wie im vergangenen Jahr.

 

Seit zwei Jahren kämpfen Säkulare und Salafisten um den Niqab an der Hochschule

 

Es begann mit einem Beschluss des Hochschulrates, der den Niqab an der Universität Ende 2011 verbot. Salafisten wollten das nicht hinnehmen und blockierten einen Monat lang die geisteswissenschaftliche Fakultät. Einige traten in den Hungerstreik. Schließlich griffen mehrere verschleierte Frauen Dekan Habib Kazdaghli an. An dem Verbot hielt der Fakultätsleiter trotzdem fest – auch als zwei Salafisten infolge des Hungerstreiks an Unterernährung starben.

 

Arwa verfolgte den Konflikt damals nur in den Medien. Sie hat gerade ihr erstes Semester begonnen, und obwohl die Hochschulgesetze die Verschleierung verbieten, trägt die 20-Jährige stolz ihren Niqab – auch auf dem Campus. Zusammen mit einer Freundin, die weder Kopftuch noch Schleier trägt, sitzt sie auf einer Bank direkt am zentralen Platz der Universität. Während über ihnen die tunesische Flagge im Wind steht, diskutieren die Beiden ihren Stundenplan.

 

Wenn Arwa spricht, lassen sich nur ab und zu Gesten an ihren Händen erkennen. Eine Extremistin sei sie nicht, sagt Arwa immer wieder, und die Bewegungen ihrer Hände werden unruhiger: »Ich habe selbst entschieden, den Niqab zu tragen, so wie es auch die Schwester des Propheten Muhammad getan hat.« Ihr ist es wichtig, an der Universität zu studieren. So wichtig, dass sie sich sogar von ihrem Mann hat scheiden lassen.

 

Der wollte ihr das Studium verbieten. »Wir hatten einfach zu unterschiedliche Meinungen über die Religion«, sagt Arwa. Die junge Frau ist zuversichtlich, ihr Geologie-Studium auch mit Niqab zu Ende zu bringen. Neue Hoffnung gab ihr der Minister für Höhere Bildung. Moncef Ben Salem von der islamisch geprägten Ennahda-Partei erklärte Anfang September die Vollverschleierung für zulässig an tunesischen Hochschulen.

 

Eine Entspannung des Konflikts ist nicht in Sicht

 

Für die Hochschuldirektoren war das ein Eklat. »Ich kann niemanden unterrichten, wenn ich nicht weiß, ob eine Frau oder ein Mann vor mir sitzt«, wettert Taher El-Manaai, Vize-Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät. Die Entscheidung des Ministers kann er nicht nachvollziehen. »Er möchte, dass die Universitäten wieder mit den Salafisten konfrontiert werden.« Dabei habe der Minister nicht einmal die Befugnis, solche Entscheidungen zu treffen.

 

Das sei allein Sache des Hochschulrates. Ein Entgegenkommen beider Seiten ist momentan nicht in Sicht. Arwa immerhin zeigt sich kompromissbereit: »Wenn der Professor im Unterricht möchte, dass ich den Niqab ablege, dann tue ich das.« Aber nicht alle Mädchen mit Niqab seien dazu bereit, sagt die Studentin. Es gebe drei Typen von Frauen mit Niqab. Solche wie sie; andere, die nur für die Prüfung den Schleier ablegen würden.

 

»Und es gibt Mädchen, die ihren Niqab immer tragen möchten.« Habib Kazdaghli, der Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät, hält das Stück Stoff an der Universität allerdings für unmöglich. Wenn der Universitätsprofessor von den Salafisten und der Ennadha spricht, hebt sich seine Stimme vor Aufregung: »Wir haben einen Lehrauftrag«, sagt er mit Nachdruck. »Und der lässt sich nicht einhalten, wenn Frauen im Unterricht voll verschleiert sind. Die Universität ist schließlich keine Moschee.« Ob die Frauen außerhalb der Universität Schleier, Kopftuch oder gar keine Kopfbedeckung tragen, sei ihm egal. An der laizistischen Ausrichtung der Universitäten aber lässt er nicht rütteln.

 

Selbst in seinem Büro kann sich Dekan Kazdaghli nicht mehr sicher fühlen

 

Dass Kazdaghli durch diesen Standpunkt in ständiger Angst lebt, nimmt er in Kauf. Wenn er das Haus verlässt, begleitet ihn immer ein bewaffneter Personenschützer. Die Extremisten wollen ihn am liebsten tot sehen. Selbst in seinem Büro kann sich Kazdaghli nicht mehr sicher fühlen. Zwei Frauen mit Niqab drangen im vergangenen Jahr in den Raum ein und verwüsteten ihn. Die Angriffe lassen ihn bis heute nicht los. In vier dicken Aktenordnern hat der Dekan alle Zeitungsartikel über den Streit gesammelt.

 

Gut sichtbar liegen sie auf dem massiven Schreibtisch. Nervös blättert er zwischen den Seiten und zeigt Bilder vom verwüsteten Büro. Vor zwei Monaten wurden die beiden Frauen zu mehreren Monaten Haft verurteilt. Voraus ging ein Rechtsstreit, in dem auch Kazdaghli zu mehreren Jahren im Gefängnis verurteilt werden sollte, weil er an der Universität in Handgreiflichkeiten verwickelt war.

 

Doch das Gericht sprach ihn frei. Wie verworren die Situation ist, zeigen auch die unterschiedlichen Ansichten an der Universität selbst. Während die beiden Leiter der geisteswissenschaftlichen Fakultät an ihrem Verbot des Niqab im Unterricht und bei Prüfungen festhalten, sind viele Professoren anderer Meinung. »Wir leben in einer Demokratie, und es sollte die persönliche Freiheit sein, einen Niqab tragen zu können«, sagt etwa Tawfik Malki, Professor für Meteorologie.

 

Für ihn sei es kein Problem, voll verschleierte Frauen zu unterrichten. Er glaubt, dass es für die Lehrer lediglich ungewohnt sei. Arwa bleibt trotz der tiefen Kluft zwischen den Kontrahenten optimistisch. Nein, sagt sie, ein komisches Gefühl habe sie an der Universität nicht. »Es gibt zwar einige, die den Niqab verurteilen. Ich habe aber auch viele Freunde, die ihn akzeptieren.« In der Schule war das noch anders. Dort war Arwa das einzige Mädchen auf dem Schulhof, das ihr Gesicht unter Stoff versteckte.

 

Zu Zeiten der Diktatur, unter den Präsidenten Habib Bourguiba und Ben Ali, gab es keine solchen Diskussionen. Vor der Revolution war selbst das Kopftuch, das nur die Haare bedeckt, an den Universitäten verboten. Ein Kopftuch tragen mittlerweile viele Studentinnen. Der Niqab hingegen ist nur selten zu sehen. »Im Moment gibt es vielleicht sechs oder sieben an unserer Fakultät«, schätzt Vize-Dekan Al-Manaai. Er ist sich aber sicher: »Es werden mehr.«

 

Ein gesellschaftlicher, kein politischer Streit

 

Mohammed Rouissi freut sich, dass die Zahl der Frauen steigt, die sich wie Arwa für den Schleier entscheiden. Mit einem Fahrrad ist der junge Imam zum Termin gekommen. Er trägt die Sonnenbrille einer amerikanischen Designermarke und ein T-Shirt mit dem Logo einer amerikanischen Bar-Kette. »Wenn der Niqab gesellschaftlich nicht so verpönt wäre, würden ihn noch viel mehr Frauen tragen«, sagt Rouissi, während er auf einem Plastikstuhl vor und zurück wippt.

 

Genau wie Arwa steht der Imam der salafistischen Glaubensauslegung nahe. Seine Hosen enden ein Stückchen oberhalb der Knöchel und sein Bart wuchert, bis er eine Handbreite lang ist. Eben genau so, wie es vom Propheten Muhammad überliefert ist. Als Imam der An-Nour-Moschee im Stadtteil Manouba ruft er zum Gebet und lehrt den Koran. Als radikaler Prediger trete er aber nicht auf, beteuert er. »Ich akzeptiere die Frauen, die keinen Niqab tragen. Meiner Meinung nach ist der Niqab kein Zwang. Frauen sollen sich selbst entscheiden«, sagt der Imam und fummelt nervös an seiner Sonnenbrille herum.

 

»Das tunesische Volk betrachtet den Niqab bloß als merkwürdiges Phänomen.« Auch Dekan Habib Kazdaghli sieht ein gesellschaftliches Problem. Für ihn symbolisiert der Niqab einen Rückschritt der Gesellschaft. Er sei nicht mit den Standards einer modernen Gesellschaft vereinbar und schon gar nicht mit den Rechten einer Frau, die arbeiten möchte. Arwa ist trotzdem zuversichtlich. Wenn sie in fünf Jahren mit dem Studium fertig ist, möchte sie ihr eigenes Geld verdienen. »Wenn Gott will, werde ich auch einen Job finden, bei dem ich meinen Niqab tragen kann.«

Von: 
Marcus Schoft

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