Lesezeit: 6 Minuten
Sehnsucht nach Heimat in einer globalen Welt

Wo geht es nach Hause?

Feature

Beirut ist eine Stadt, die gezähmt werden will. Doch was kann man tun, wenn man sich in der eigenen Stadt wie ein Tourist fühlt? Weiße Kartoffel und Orient Beauty sprechen über die Sehnsucht nach Heimat in einer globalen Welt.

»Orient Beauty« – Rana Siblini stammt aus Beirut und ist Sprachwissenschaftlerin und Lehrerin von Beruf. 2010 kam sie nach Deutschland. In Münster schreibt sie an ihrer Doktorarbeit über Nostalgie in der mittelalterlichen arabischen Dichtung. »Weiße Kartoffel« – Stanislaw Strasburger ist polnischer Schriftsteller und freiberuflicher Kulturmanager. Er beschäftigt sich immer wieder mit dem facettenreichen Thema Multikulturalität. Seit mehreren Jahren pendelt er zwischen Köln, Beirut und seiner Heimatstadt Warschau. Orient Beauty und Weiße Kartoffel sprechen miteinander Deutsch. Doch manchmal, wenn es hakt ... Hi, kifak, ça va?

 

Orient Beauty: Es wundert mich, dass du nicht zu Hause wohnst, wenn du in Warschau bist. Als ich in Beirut gelebt habe, habe ich mich nach Freiheit gesehnt und wollte unbedingt von den Eltern ausziehen. Jetzt kann ich es kaum erwarten, auf Besuch zu Hause zu sein. Geht es dir nicht auch so?

 

Weiße Kartoffel: Erinnerst du dich an den Roman »Hakawati« von Rabih Alameddine? Sein Protagonist, ein Emigrant, kehrt nach Beirut zurück und sagt: Ich fühlte mich wie ein Fremder (…). Ich war ein Tourist in diesem befremdlichen Land. Ich war zu Hause.

 

Orient Beauty: Bist du ein Tourist in Warschau?

 

Weiße Kartoffel: So was in der Art. Und das nicht nur weil überall gebaut wird und die Gebäude fast so schnell wie in Beirut aus dem Boden schießen. Wir reden viel, wenn ich meine Eltern treffe. Und natürlich gehen wir gemeinsam essen. Ich liebe das! Aber an allen Ecken spüren wir, wie fremd wir einander geworden sind. Vertrautheit lässt sich kaum noch herstellen. Obwohl wir uns sehr lieben. Das tut richtig weh ... Aber sollte ich etwa so tun, als ob es anders wäre?

 

Orient Beauty: Du bist vielleicht ein komischer Vogel, Weiße Kartoffel. Beirut wird immer mein Zuhause sein. Auch ich habe mich in Deutschland sehr verändert. Die Staus in Beirut, die ständigen Stromausfälle und das ganze Chaos gehen mir total auf die Nerven. Aber zu Hause ist man dort, wo man aufgewachsen ist und wo man unter seinesgleichen ist. Es stimmt, manchmal sind die Gespräche mit der Familie lästig. Besonders, wenn solche Fragen kommen wie, wann wirst du uns endlich glücklich machen und heiraten? Oder wenn sie mir einen Kandidaten vorstellen wollen ... Was weiß ich, wann mir jemand einen Heiratsantrag macht! Aber in Münster vermisse ich das alles. Wie der Dichter sagt: كم منزل في الأرض يألفه الفتى وحنينه أبدًا لأوّل منزل*  Das ist die arabische Sehnsucht nach der Heimat ... Du weißt ja, die Rückkehr in das Heimatland hat auch eine große politische Bedeutung in der Region. Aber wo ist dein Zuhause?

 

Weiße Kartoffel: Jetzt ist es in Beirut.

 

Orient Beauty: Ach so! Die Weiße Kartoffel schleppt es in seinem Rucksack mit sich herum …

 

Weiße Kartoffel: Hör auf, Beauty! Ich habe einfach kein Problem damit, »zu Hause« ein Touri zu sein. Ich möchte nicht so leiden wie der Protagonist bei Alameddine. Mein Zuhause ist ein Ort, den ich gezähmt habe.

 

Orient Beauty: Und wie geht das?

 

Weiße Kartoffel: Ich zähme die Stadt, indem ich durch die Gassen laufe, ohne Eile und ohne Ziel. Ich lasse mir die Dörfer in der Umgebung zeigen, in denen meine Beiruter Freunde aufgewachsen sind. Oder ihre Lieblingskneipen. Ich mache mir mit Geschichten Orte und Menschen vertraut. Doch manchmal lassen sie mich spüren, dass ich nicht ein Teil davon bin. Ich fühle mich dann schrecklich einsam. Aber nur so kann ich den Ort zähmen, den ich mir als mein Zuhause ausgewählt habe. Mit dem Zuhause ist es ein bisschen wie mit der Ehe – die Entscheidung sollte man nicht den Eltern überlassen.

 

Orient Beauty: Du bist ein echter Kosmopolit ... Eine extrem seltene Spezies ... Ach, Weiße Kartoffel, die Dinge sind viel einfacher als du glaubst. Deine Eltern hätten dich in Beirut zur Welt bringen sollen. Dann bräuchtest du nie nach einem anderen Zuhause suchen ... Aber das ist eine ganz andere Geschichte ...

*Man kann viele Häuser haben über die Welt verstreut, aber die Nostalgie gehört nur dem ersten Haus.


Die Reihe wird parallel auf Polnisch, Arabisch und Deutsch veröffentlicht.

Gefördert durch das Land NRW. Unterstützt durch das Buchinstitut aus Polen und das Goethe-Institut Libanon.

Von: 
Rana Siblini und Stanislaw Strasburger

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