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Selbstverbrennungen in Marokko

Selbstverbrennung als Heldentat?

Feature

Am 18. Januar 2012 zünden sich drei junge marokkanische Akademiker an, einer von ihnen stirbt wenige Tage später an den Verletzungen. Doch anders als vor einem Jahr in Tunesien scheint es diesmal keinen zu interessieren.

Hamza Khalil macht gerade eine Ausbildung in Rabat, um Deutsch als Fremdsprache in Marokko zu unterrichten. Er hat bereits Germanistik in Fès studiert, doch das Studium allein reicht nicht für eine Arbeitsstelle. Hamza ist 24 Jahre alt und träumt von einer besseren Zukunft, so wie die meisten Marokkaner und Marokkanerinnen in seinem Alter.

 

Nachts um 12 Uhr, ein paar Tage nach der Selbstverbrennung in Rabat am 18. Januar, telefoniere ich mit Hamza. Er ist gerade bei seiner Familie in Fès. Die Nachricht von der Selbstverbrennung der beiden Akademiker in Rabat hat er natürlich bekommen und ja, es mache ihn traurig. Ich verspreche ihm zuerst seinen Namen in meinem Artikel zu ändern, daraufhin ist er bereit, mir mehr Auskunft zu geben. Die Angst vor dem Geheimdienst ist in Marokko allgegenwärtig. Hamza behauptet einen der beiden, die an den Verletzungen gestorben sind, zu kennen und meint damit, dass er in der Zeitung über ihn gelesen hat.

 

Der Mann hieß Zaydoun Abd el-Wahab, studierte wie Hamza in Fès, war 27 Jahre alt und hinterlässt eine schwangere Frau, die weiterhin in Rabat auf die Straße geht. Doch warum steht sein Name nun nicht weltweit in der Zeitung, so wie damals der von Mohamed Bouazizi? »Die Medien verschleiern die Realität« ist Hamzas zögerliche Antwort.

 

»Unsere Religion verbietet, sich selbst zu verletzen«

 

Dann aber erklärt er ausführlicher: »Das Problem liegt an erster Stelle bei uns. Menschen, die sich selbst verbrennen, werden als Märtyrer gefeiert. Doch es ist in unserer Religion verboten, sich selbst zu verletzen.« Jedoch sieht er die Selbstverbrennung Zaydouns ein bisschen von diesem religiösen Gesetz ausgenommen, da er nur aufgrund eines Versehens gestorben sei. Zaydoun hätte nur seinen bereits brennenden Kollegen retten wollen. »Aber ganz allgemein geht es so nicht. Protestieren ist ihr Recht, aber nicht auf diese Weise«, argumentiert Hamza weiter.

 

»Doch wie kann man nun die Probleme in Marokko lösen? Was kann gegen die Armut der Menschen getan werden?«, frage ich Hamza. »Armut ist nicht das Problem. Armut gibt es überall, selbst in den USA. Wir haben Alles in Marokko. Aber es gibt Leute von Außen, die die islamischen Länder attackieren und unsere Werte zerstören wollen. Sie führen einen kalten Krieg gegen uns. Aber wir kennen dieses Spiel schon. Diese Leute wollen uns vorgaukeln, dass Selbstverbrennung eine Heldentat sei und wir damit unser Leben verändern könnten. Aber das ist nicht die Realität. Sie werden dieses Spiel nicht gewinnen.« Auf die Frage, wer genau diese Leute sind, die dieses Spiel mit den Marokkanern treiben, meint Hamza nur, dass das genau die große Frage sei, die sich alle Marokkaner stellen. »Wir sind nicht so, wie die Medien uns beschreiben und wie die Menschen in der restlichen Welt uns sehen«, betont Hamza noch einmal.

 

»Aber inwiefern steht dies nun mit der Selbstverbrennung der jungen Akademiker in Rabat in Verbindung?«, frage ich verwundert. »Selbstverbrennung hat nichts mit dem muslimischen Glaubensbekenntnis zu tun. Die Heroisierung dieser Tat entspricht nicht dem, was wir davon halten. Die Leute aus dem Westen wollen damit zeigen, dass wir primitiv sind, um damit den Krieg gegen die Muslime zu rechtfertigen. Und was bedeutet Revolution? Krieg zwischen den muslimischen Brüdern? In unserem Wörterbuch gibt es dieses Wort nicht! Muslime dürfen nicht gegeneinander kämpfen.«

 

Hamza zitiert den Vers 9 der Sure 49 aus dem Koran. Auf die Frage, wie man nun etwas an der Situation in Marokko ändern kann, wenn Selbstverbrennung und Kampf gegen die eigenen Staatsoberhäupter nicht möglich sind, erklärt Hamza, dass die Muslime zuerst den Islam richtig leben müssten. Dies sei der Anfang für alle weiteren Schritte. Hamza entschuldigt sich. Es ist spät geworden und er muss das Gespräch beenden, da er morgen wie immer früh aufstehen will. Für das erste Gebet vor Sonnenaufgang.

 

»Die Studenten in Marokko leben in ständiger Angst vor den militärischen Einheiten«

 

Am nächsten Tag spreche ich mit Jalal Scharafi. Er ist ebenfalls marokkanischer Student. Doch studiert er bereits zum zweiten Mal und jetzt nicht mehr in Marokko, sondern in Österreich. Da er in Marokko mit seinem Masterabschluss in Englisch keine Aussicht auf Arbeit hatte, begann er in Österreich ein Dolmetscher-Studium. Auf meine Frage, was er über die Selbstverbrennungen der jungen Männer in Rabat denkt, meint er zuerst, dass dies nicht zum ersten Mal passiert sei.

 

Schon vor zwei Jahren, also ein Jahr vor dem Tunesier Mohamed Bouazizi, hätten sich Menschen in Rabat angezündet. Auch damals hörte die restliche Welt nichts davon. Schuld daran sei unter anderem die Verbannung des Senders Al-Jazeera aus Marokko. Am 30. Oktober 2010 hatten marokkanische Behörden dem arabischen Fernsehsender Al-Jazeera jegliche Aktivitäten in Marokko verboten. Das Video zur Selbstverbrennung vergangenen Donnerstag hat der Sender aus Katar zwar online veröffentlicht, jedoch wurde es nicht von eigenen Kameraleuten gefilmt. Zu finden war das Video vorher bereits auf Youtube. »In Marokko gibt es keine Meinungsfreiheit«, so lautet die einfache Erklärung Jalals.

 

Die Selbstverbrennung der marokkanischen Akademiker löst bei Jalal starkes Mitgefühl aus, welches er bildhaft schildert: »Es brennt mir in der Seele. Ich musste fast weinen, als ich das Video sah. Ich gehöre zu diesem Land. Ich fühle mich als Marokkaner und es schockt mich als Marokkaner zu sehen, wie sich diese Menschen anzünden. Ich fühle mit diesen Leuten, ich habe oft mit ihnen in Rabat protestiert und mein Freund ist jeden Tag dort. Es ist nicht gerecht hier in Europa zu sein und er sitzt dort in dieser wortwörtlich brennenden Lage! Doch sich anzuzünden ist laut einiger islamischen Gelehrten in dieser Situation verboten.«

 

Auf meine Frage, wer für diese Situation verantwortlich ist, zögert er nicht lange: »Die Leute, die in Marokko im Parlament sitzen, sehen weg. Sie hören nicht auf das, was die jungen Akademiker fordern. Das ist eine Schande! Auch arme Menschen sollten das Recht haben etwas zu sagen.« Jalal erzählt auch von der marokkanischen Armee und den verschiedenen Einheiten, die in Marokko bei jeder Demonstration sofort anwesend wären.

 

Als Student in Marokko habe er viele Zusammenstöße von verschiedenen Studentengruppierungen mit diesen Einheiten erlebt. »Sobald es Probleme gibt, sind sie da. Sie werden darauf trainiert, gnadenlos auf Studenten oder andere Demonstranten einzuschlagen. In Fès wurde direkt neben der Universität Sidi Mohammed Ben Abdellah eine Station des Militärs errichtet, damit bei Protesten schneller eingegriffen werden kann. Die Studenten in Marokko leben in ständiger Angst vor den militärischen Einheiten. Es gibt keine Meinungsfreiheit an marokkanischen Universitäten.«

 

»Wir dürfen uns nicht auf die USA und Europa verlassen«

 

Die Gründe für die Unterdrückung des marokkanischen Volks durch die arabischen Staatsoberhäupter liegen für Jalal in der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeit von Europa und den USA. »Wir dürfen uns nicht auf Europa und die USA verlassen. Die Beziehungen zwischen den arabischen Staaten und den westlichen Mächten sind geprägt von einem Ungleichgewicht. Wir sind abhängig und werden deshalb kontrolliert. Manche Intellektuelle behaupten sogar, die gesamte arabische Revolution sei inszeniert! Die arabischen Staaten sind Sklaven des Westens. Diese Leute sind keine Muslime und wollen uns, in unseren muslimischen Ländern, erklären, wie Demokratie funktioniert?«

 

Auf die Frage, was nun in Marokko getan werden kann, antwortet Jalal, dass auch die gemäßigt islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) und deren Parteivorsitzende und jetzige Premierminister Abdillah Benkirane die Probleme nicht lösen könnten. »Wenn wir eine Veränderung wollen, müssen wir die Hauptprobleme lösen. Wir müssen die Kluft zwischen den Armen und Reichen schließen und Marokko muss seine Rohstoffe und Ressourcen für die eigene Bevölkerung nutzen und nicht zu billigen Preisen nach Europa und in die USA exportieren. Wir müssen uns auch auf unsere islamischen Werte beziehen. Freiheit, Gerechtigkeit und Frauenrechte – das alles sind Voraussetzungen einer islamischen Gesellschaft.«

 

»Der Staat trägt die Schuld an der Selbstverbrennung der Akademiker«

 

Raschida Boughra, eine marokkanische Studentin aus Tanger, antwortet mir auf meine Email, was sie von den Selbstverbrennungen hält. Sie glaubt, dass die Demonstranten sich auch anzündeten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Zwar leben sie in einer schwierigen Situation, doch sei eine Selbstverbrennung keine Lösung. Die Menschenrechtsaktivisten in Rabat hätten gefordert, dass der Staat die Verantwortung für diese Selbstverbrennung und den Tod von Zaydoun tragen müsse. Bisher aber wolle niemand die Verantwortung übernehmen.

 

»Die jungen Akademiker haben von ihrer gesellschaftlich und finanziell schwierigen Lage die Nase voll. Sie sind gebildet und arbeitslos. Sie protestieren seit dem 20. Februar letzten Jahres immer wieder vor dem marokkanischen Parlament und dem Bildungsministerium dafür, dass sie einen Arbeitsplatz bekommen. Aber der Protest ist vergeblich.«

 

Bisher gab eine der marokkanischen Mehrheitsparteien im Parlament, die Istiqlal-Partei, den Forderungen der Demonstranten nur insofern nach, als sie in einem Beschluss versprach, den meisten Akademikern, die ihren Abschluss bis einschließlich 2010 erhalten hatten, einen Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst zu geben. Die Proteste ließen daraufhin nicht nach, auch nicht seit der Neuwahl des marokkanischen Parlaments im November 2011. Rund 180 Akademiker und Studenten begannen am 5. Januar 2012 einen Sitzstreik in einem Gebäude des Bildungsministeriums in Rabat. Laut Youssef al-Raissouni, dem Sprecher der marokkanischen Menschenrechtsorganisation AMDH, verweigerte die marokkanische Polizei den Demonstranten Lebensmittel, Medizin und Wasser im innern des Gebäudes.

 

»Der Staat ist für die Verbrennung der Akademiker verantwortlich«, schreibt Raschida weiter in ihrer Email. Am Donnerstag, den 26. Januar stellte die neue Koalitionsregierung aus vier Parteien ihr Regierungsprogramm vor. Die Selbstverbrennung der Demonstranten wurde dabei nicht erwähnt, wohl aber wurden weitere Versprechungen zur Senkung der derzeitigen Arbeitslosenrate von 9 Prozent auf 8 Prozent gegeben.

 

Nicht angesprochen wurde die Arbeitslosenquote unter Hochschulabsolventen, die bei 16 Prozent liegt. »Die Menschen hier in Marokko und besonders die Studenten haben mehr von der neuen Regierung unter Benkirane erwartet. Aber leider hat diese bis jetzt keine Veränderungen vorgenommen.«  Tatsächlich haben, laut einer Anfang Januar in einer marokkanischen Tageszeitung veröffentlichten Umfrage, 88 Prozent der Marokkaner ihr Vertrauen gegenüber dem neuen Premierminister ausgesprochen. Laut Raschida hat sich diese Situation nun verändert: »Die Menschen beginnen, das Vertrauen an Benkirane zu verlieren. Trotz allem darf sich niemand anzünden, um einen Arbeitsplatz zu erhalten. Das ist unlogisch, religiös verboten und auch gesellschaftlich nicht erlaubt.«

 

Der Sitzstreik in dem Gebäude des Bildungsministeriums geht jedoch weiter. Zu der alten Forderung nach Arbeitsplätzen kommen nun neue hinzu: Die Aufklärung des Todes von Zaydoun, die Entschädigung der Angehörigen der Opfer oder zumindest eine Anstellung der Frau von Zaydoun, die selbst einen Bachelor-Abschluss hat und die Übernahme der Behandlungskosten für Mahmoud, der immer noch mit schweren Verbrennungen in einem Krankenhaus in Casablanca liegt. Obwohl Polizei und Sicherheitskräfte für die Demonstranten klare Mitschuldige für die Selbstverbrennungen sind, bewachen diese weiterhin bis spät nachts den Sitzstreik und jeder, der tagsüber versucht, die arbeitslosen Akademiker mit Lebensmitteln zu versorgen, wird von ihnen aufgehalten.

 

»Angst vor der Zeit nach dem Studium«

 

Die arabische Revolution, die im Westen so romantisch verklärte Vorstellungen auslöst, ist in den Köpfen der marokkanischen Studenten zum Albtraum geworden. Menschen, die sich aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung anzünden sind für sie bittere Realität. Am Schluss ihrer Email schreibt Raschida von ihrer Angst, einmal selbst in diese aussichtslose Lage zu geraten: »Manchmal habe ich auch Angst vor der Zeit nach dem Studium. Was soll ich machen, wenn ich keine Arbeit finde? Ich weiß es nicht… Aber ich habe meinen Glauben an Gott und Vertrauen in meine Fähigkeiten. Es ist besser, die Sache positiv zu sehen, sonst zünden sich noch alle Marokkaner an. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Am Ende ihrer Email steht ein Smiley. Sein verlassen wirkendes Grinsen brennt sich in meinen Augen ein.

Von: 
Laura Pannasch

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