Lesezeit: 8 Minuten
Sexuelle Belästigung in Ägypten

Das große Tabu, das keines mehr ist

Feature

Sexuelle Belästigung erreicht in Ägypten eine bedrohliche gesellschaftliche Akzeptanz. Doch viele Frauen akzeptieren Bigotterie und Totschweigen nicht länger – und nutzen neue Formen, um das Problem in die Öffentlichkeit zu tragen.

Der Tahrir-Platz ist gefährlich geworden, zumindest für 50 Prozent der Menschen. Wie schon einige Male zuvor in den letzten Monaten, so berichtete auch die britische Journalistin Natasha Smiths in der vergangenen Woche darüber, wie sie sexuell angegriffen, brutal entkleidet und missbraucht wurde. Mutig schreibt sie: »Sie kratzten und grabschten meine Brüste und versuchten, auf jede erdenkliche Art und Weise mit ihren Fingern in mich einzudringen. Ich wurde herumgeschubst, jede einzelne Sekunde misshandelt.«

 

Doch nicht nur Ausländerinnen, auch Ägypterinnen werden immer wieder während der Demonstrationen sexuell belästigt oder brutal attackiert. Was zuerst Vorkommnisse waren, ist mittlerweile eine Methode geworden, um weibliche Demonstrantinnen vom Tahrir-Platz fernzuhalten. Auf dem Tahrir-Platz wird sexuelle Gewalt von zwei Gruppen ausgeführt: einerseits von sexuell frustrierten, ungebildeten Jungs aus den Armenvierteln Kairos, die eine Demonstration als gute Gelegenheit sehen, Frauen zu sehen und sie im Gedränge ungehemmt anfassen zu können.

 

Viele von ihnen sind nicht politisch, sie kommen nur, weil sie wissen, dass auch weibliche Demonstrantinnen im Gedränge sein werden. Das ist ein Teil des in Ägypten allgegenwärtigen Problems der sexuellen Belästigung, die jede Frau in Bussen, auf der Straße und am Arbeitsplatz erfährt. Andererseits wird dieses gesellschaftliche Problem von Gegnern der Revolution konsequent benutzt. Das alte Regime schickte die bekannten Schlägertrupps (»Baltageya«) auf den Tahrir-Platz, um gezielt Frauen anzugreifen und sie so vom Demonstrieren abzuschrecken. Und ihre Strategie ging auf, immer mehr Frauen blieben dem Tahrir-Platz fern, besonders nach Dämmerung waren deutlich weniger Frauen zu finden als noch im letzten Jahr.

 

Jede Frau in Ägypten hat ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Belästigung

 

Im April passierte es in meinem eigenen Bekanntenkreis. Gegen 20 Uhr auf einer Demonstration, wir starteten mit etwa 7 Frauen und 10 Männern. Unterwegs durch die Kairoer Innenstadt schlossen sich uns immer mehr Menschen an. Wir Frauen fühlten uns unwohl und gruppierten uns zusammen, so dass die Männer einen schützenden Ring um uns bilden konnten. Das ist bei Demonstrationen in Ägypten leider absolut notwendig.

 

Als wir den Platz erreichten, kippte die Stimmung, und schließlich endete alles so, wie es wohl bereits bei hunderten Frauen geendet hatte. Einige Frauen unserer Gruppe wurden von uns unbekannten Männern umzingelt, von ihren Freunden getrennt und sexuell belästigt und missbraucht. Wir bemerkten es rechtzeitig und verhinderten so das Schlimmste. Eine unserer Mitstreiterinnen, die sich schon seit langem gegen sexuelle Belästigung engagierte, war so aufgebracht, dass sie sich die Trommel schnappte und immer wieder laut rief: »Nein zu sexueller Belästigung!«

 

Ein absoluter Tabubruch in Ägypten. Überhaupt das Wort auszusprechen, lässt die recht konservative und religiöse Mehrheit rot anlaufen und beschämt zu Boden gucken. Doch sie machte weiter: »Ich bin eure Schwester, Mutter oder Frau, ich erteile euch heute eine Lektion, nicht ich bin die Schande, sondern die Belästiger!«

 

Und schließlich stiegen die Leute mit ein, sie machten mit, auch die bärtigen Männer in Galabeya. Am nächsten Tag gründeten wir eine Facebook-Gruppe, die in den ersten Tagen bereits über 1000 Mitglieder verzeichnen konnte. Wir hielten Treffen ab, produzierten Sticker, bastelten Stencils und sprühten in ganz Kairo Graffitis gegen sexuelle Belästigung, schließlich organisierten wir einen Protestmarsch und Schildern. Viele Leute schauten weg, einige reagierten aggressiv. Wir seien Ungläubige und eine Schande, rief uns ein religiös aussehender Mann zu. Wir seien doch selber Schuld, ein anderer holte gleich ein Messer heraus und bedrohte uns.

 

Wer sich offen gegen sexuelle Belästigung engagiert, lebt gefährlich. Das hat man auch an der Demonstration gegen sexuelle Belästigung im Juni gesehen. Trotz männlichen Beschützern, die einen Kreis um die Demonstrantinnen bildeten, wurde die Demonstration nach Pfiffen und Beleidigungen angegriffen, viele der Demonstrantinnen wurden sexuell missbraucht, viele der Umstehenden griffen nicht ein. Frauen, die demonstrieren, die Subjekte seien wollen, werden von vielen nicht akzeptiert. Ich besuchte die Jahreskonferenz der Organisation »Harassmap«, die virtuelle Karten und ein Internetportal nutzen, um Frauen die Möglichkeit zu geben, Übergriffe zu melden, um so Hotspots sexueller Belästigung auszumachen und gezielt dort mit den Anwohnern und Straßenhändlern zu sprechen.

 

Es wurde eine aufwendig recherchierte Präsentation vorgestellt, die Statistiken über sexuelle Belästigung und mögliche Erklärungsmuster nannte. Anschließend in der Diskussion meldeten sich als erstes Männer zu Wort, die nach der Verantwortung der Frau fragten: »Stellen Sie sich vor, sie sähen einen roten, knackigen Apfel vor sich, das ist doch verführerisch, oder nicht?« Dass Äpfel und Frauen nicht in die gleiche Kategorie gehören, ist bei vielen Männern noch nicht angekommen. Die Frauen reagierten entsprechend entnervt auf die immer gleiche Debatte.

 

Ein Problem mitten in der Gesellschaft

 

Das Problem der sexuellen Belästigung beschränkt sich nicht auf den Tahrir-Platz, auch wenn dieser nach der Revolution ein Hotspot geworden ist. Sexuelle Belästigung ist Alltag für viele Frauen in Ägypten, laut einer Studie des »National Center for Women Rights« erleben 98 Prozent der Ausländerinnen in Ägypten und 83 Prozent aller Ägypterinnen sexuelle Belästigung, 73 Prozent davon täglich. Die Spannbreite an Belästigung reicht dabei von anzüglichen Kommentaren, Kussgeräuschen, Stalking, leichten Berührungen im Gedränge oder im Vorbeigehen, Anfassen, Begrabschen bis hin zu gewalttätigen Übergriffen und Vergewaltigung.

 

Seit der Revolution im Januar und Februar 2011 haben die Übergriffe auf Frauen deutlich zugenommen, am Tahrir-Platz genauso wie an anderen Orten Ägyptens. Warum gerade in Ägypten sexuelle Belästigung solche Ausmaße angenommen hat, dafür gibt es eine ganze Reihe von Erklärungen. Die wirtschaftliche Lage junger Männer sei oft prekär, sie schlagen sich mit schlecht bezahlten Jobs durch. Die Anforderungen an junge Männer für eine Hochzeit sind indes traditionell extrem hoch.

 

So muss der Bräutigam eine Wohnung und die Einrichtung stellen, die Hochzeit bezahlen, seiner Braut ein Tablett mit Goldschmuck schenken und den Eltern der Braut eine vorher ausgemachte Geldsumme bezahlen. Jungen Männern Anfang 20 ist somit klar, dass sie in den nächsten 15 Jahren nicht heiraten werden und somit auch keiner Frau näher kommen werden, da aus kulturellen und religiösen Gründen Berührungen und Sex vor der Ehe für beide Geschlechter absolut verboten sind.

 

Doch die meisten Leute antworten auf die Frage, warum es sexuelle Belästigung gibt, dass es die Frauen sind, die mit ihrer Kleidung oder Bewegungen die Übergriffe provozieren. Den Opfern wird oft die Schuld zugeschoben, weil sie nicht verschleiert sind, figurbetonte Kleidung tragen, auffallende Farben anhaben, geschminkt sind, nach Dämmerung noch auf der Straße sind, sich im Café aufhalten, und dergleichen mehr. Auch wenn umfassend bewiesen wurde, dass verschleierte Frauen genau so betroffen sind und auch Frauen in Burka belästigt werden.

 

Männlich dominierte Gesellschaft und sexistisches Frauenbild

 

Diese Schuldzuweisungen sind Ausdruck einer patriarchalen, chauvinistischen Kultur, die Frauen als das schwächere, sündhafte Geschlecht sehen. Beispielhaft dafür war eine Kampagne religiöser Gruppen aus dem Jahre 2006. Zu sehen waren auf Plakaten zwei rote Lutscher, als Zeichen für Frauen, einer in Plastik eingewickelt und damit verschleiert, der andere ohne Folie und voller Fliegen, eine Aufforderungen an Frauen also, sich zu verschleiern, um Männer fernzuhalten.

 

Diese Geisteshaltung ist notwendig, um ein Klima zu schaffen, indem sexuelle Belästigung sich so verbreiten kann. Frauen werden als Objekt der Begierde betrachtet, wie eben Äpfel oder Lutscher, die Männer natürlicherweise ständig begehren. Als Mitbürgerinnen, Kolleginnen oder Studentinnen werden sie nicht wahrgenommen. Dieses rein sexistische Frauenbild führt dazu, dass man Frauen, die Objekte der Verführung, verbannen muss, ins Private oder hinter einen schwarzen Ganzkörperschleier.

 

Wie bei Süßigkeiten, die offen herumliegen, fasst man auch Frauen einfach so an – ein Bonbon muss man ja auch nicht um Erlaubnis fragen. Anschließend werden diese Übergriffe dann totgeschwiegen und tabuisiert, schließlich ist dies eine Schande für die betroffenen Frauen und deren Erfahrungen werden immer wieder als individuelle Vorkommnisse dargestellt, an denen sie selbst Schuld haben.

 

Das Schweigen hat ein Ende

 

Doch in den letzten fünf Jahren hat sich einiges getan, viele Frauen schweigen nicht mehr und sprechen öffentlich über ihre Erfahrungen. Sexuelle Belästigung wird immer mehr Thema in der Öffentlichkeit, auch dank vieler Aufklärungskampagnen. Zum ersten Mal wurden sexuelle Übergriffe 2006 als gesamtgesellschaftliches Problem wahrgenommen. Während des Festes am Ende des Ramadan zogen Horden von frustrierten, gierigen jungen Männern durch die Innenstadt Kairos und griffen sich wahllos junge Mädchen, rissen ihnen Kleidung und Kopftuch herunter und missbrauchten sie sexuell. Die staatlichen Medien versuchten, den Vorfall zu vertuschen, doch Videos, Fotos und Berichte von Betroffenen kursierten bereits überall auf Blogs, Facebook und auf privaten Fernsehsendern. Danach starteten viele Sensibilisierungskampagnen.       

 

Auch der Fall der Filmregisseurin Noha Rushdi, die ihren Peiniger anzeigte und so eine Haftstrafe von 3 Jahren und eine Geldstrafe wegen sexueller Belästigung erwirkte, stand groß in der Öffentlichkeit und machte vielen Frauen Mut. Sie verarbeitete ihre Geschichte und das Thema im Allgemeinen in dem berühmt gewordenen Film »Cairo 678«. In dem Film gehen drei Frauen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten mit dem Problem um – sei es mit Gewalt, mit Selbstverteidigungskursen oder auf dem gerichtlichen Weg.

 

Spätestens aber seit der Revolution schweigen viele Frauen nicht mehr. »In den 18 Tagen vor dem Sturz Mubaraks war ich jeden Tag auf dem Tahrir, ich habe sogar dort geschlafen – nie hat mich jemand belästigt. Das war das neue Ägypten. Danach war wieder alles wie früher, schlimmer noch. Doch jetzt wissen wir, dass es auch anders geht, und das zwar sofort. Wir werden jetzt nicht mehr schweigen wie früher. Alles ändert sich im Land, für uns soll sich auch endlich etwas ändern«, so Nayera, eine junge Aktivistin.

 

Und tatsächlich sieht man seit einigen Monaten vermehrt in Kairo Sticker und Graffitis gegen sexuelle Belästigung, immer neue Aktionsgruppen organisieren sich bei Facebook und im realen Leben. »Wir fordern Freiheit und Würde für alle Menschen hier – nicht nur in der Politik, auch auf der Straße«, meint Khaled, Mitbegründer einer Gruppe gegen sexuelle Belästigung. Doch der Weg ist noch lang, angesichts der Tatsache, dass selbst kleine Demonstrationen für Frauenrechte verbal und physisch angegriffen werden. Klar ist, dass Frauen sich nicht mehr zum Schweigen bringen lassen werden.

Von: 
Victoria Tiemeier

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.