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Stichwahlen in Ägypten

Soll er zeigen, was er kann – mit Gottes Hilfe

Analyse

Ganz Ägypten verfolgte gestern die Verkündung des Endergebnisses der Stichwahlen. Die Erwartungshaltung an Ägyptens neuen Präsidenten ist skeptisch, aber erwartungsvoll.

Unendliche Spannung herrschte in Kairo in den Stunden vor der Bekanntgabe des Endergebnisses der ersten freien Präsidentschaftswahl Ägyptens. Gegen ein Uhr beendeten die meisten ihre Arbeit, Banken, Geschäfte, Büros schlossen spätestens um zwei Uhr  – man machte sich vorsichtshalber bereit für eine weitere Revolution, falls Ahmad Schafik zum Sieger erklärt werden würde. Kairo versank also noch stärker als sonst im Stau, alles strömte entweder ins sichere Heim oder voller Energie und Spannung auf den Tahrir-Platz.

 

Um drei Uhr Nachmittag dann plötzlich totale Ruhe, ganz Ägypten hielt den Atem an. Was der Richter nun sagte, hatten die meisten anders erwartet. Er berichtete erstaunlich transparent über die Arbeit der Wahlkommission, über die Prüfung sämtlicher Beschwerden. Detailliert erklärte er, wie die Kommission welchen Beschwerden genau nachgegangen sei. Schließlich erklärte er Mursi mit einem Vorsprung von knapp 1 Million Stimmen zum Wahlsieger.

 

Wahnsinnig laute Jubelschreie waren vom Tahrir-Platz in weiten Teilen der Stadt zu hören. Die Menschen feierten noch die ganze Nacht mit Jubelgesängen und Feuerwerk. Insgesamt sind auch viele von denen, die sich der Stimme enthalten haben oder die Schafik gewählt haben, froh, dass Mursi Präsident geworden ist. »Es ist besser so, sonst wäre das Land nie zur Ruhe gekommen. Und Mursi können wir spätestens nach 4 Jahren immer noch abwählen«, so ein junger Christ, der Schafik gewählt hat.

 

Mursi versuchte in seinen ersten Worten vor der Presse diejenigen zu beruhigen, die Angst vor einer islamistischen Machtübernahme hatten. Er wolle der Präsident aller Ägypter sein, Muslime und Christen, Männer und Frauen, Arme und Reiche. Nationale Einheit stehe an erster Stelle. Als Zeichen dafür legte er direkt alle Ämter in der Muslimbruderschaft und der zugehörigen »Partei für Freiheit und Gerechtigkeit« nieder.

 

Am 1. Juli soll er nun sein neues Amt übernehmen. Morgen ist der Rücktritt der aktuellen Regierung geplant, die Mursi dann neu besetzen darf. Im Internet kursieren bereits Aufrufe, dass Mohamed El Baradei Premierminister werden soll. Auch die in der ersten Wahlrunde ausgeschiedenen Kandidaten dürften bei der Besetzung der Ministerämter eine Rolle spielen.

 

Das »Mursimeter« soll die Arbeit des neuen Präsidenten in den ersten 100 Tagen bewerten

 

Leicht wird er es sicherlich nicht haben. Zunächst ist da das Militär, das erst vor einer Woche per Verfassungsdeklaration die Macht des neuen Präsidenten eingeschränkt hat und sich selbst viele Kompetenzen gesichert hat. Der Oberste Militärrat zieht immer noch die wichtigsten Fäden. Mursis Aufgabe wird es also sein, den Balanceakt zwischen Verhandlungen mit dem Militärrat und Konfrontation desselben zu meistern. Schließlich ist der Rest des entstehenden demokratischen Systems noch im Aufbau oder bereits wieder eingerissen.

 

Das vom Verfassungsgericht vor eineinhalb Wochen aufgelöste Parlament muss neu gewählt werden, die Verfassungsgebende Versammlung muss endlich ihre Arbeit aufnehmen und in einer neuen Verfassung die Grundlagen des Staates und des politischen Systems, darunter auch die Kompetenzen des Präsidenten, festlegen. Zudem steht der erste frei gewählte Präsident Ägyptens unter scharfer Beobachtung. Die Erwartungen sind groß – seitens seiner Unterstützer und seiner Gegner.

 

So haben Aktivisten der Revolution bereits eine Platform im Internet und bei Facebook gegründet, die Mursis Politik überwachen soll. Auf dem so genannten »Morsimeter« (www.morsimeter.com) wollen die Aktivisten Mursis Wahlprogramm für die ersten 100 Tage seiner Präsidentschaft mit seiner tatsächlichen Politik vergleichen. »Auch wenn Mursi und die Muslimbrüder sicherlich nicht meiner politischen Richtung entsprechen, werde ich sie respektieren. Wir wollen Mursi beim Wort nehmen und schauen, was er macht in Sachen Arbeitslosigkeit, Benzinkrise, Armut, Bildung, Gesundheitsversorgung,…es wartet genug Arbeit auf ihn«, so ein junger Aktivist, der sich der Stimme enthalten hat.

Von: 
Victoria Tiemeier

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