Ende 2009 beginnt ein junger Syrer, auf Facebook über sein Leben zu schreiben. Mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs wird Aboud Saeed zu einer der wichtigsten Stimmen der jungen syrischen Generation. Eine Begegnung.
Die Wohnung des klügsten Menschen im Facebook ist klein und dunkel. Ein Student hat sie Aboud Saeed für ein Semester überlassen. Seit Oktober 2013 lebt der 31-jährige Syrer in Berlin; ursprünglich war er wegen einer Lesereise seines Buches »Der klügste Mensch im Facebook. Statusmeldungen aus Syrien« in die deutsche Hauptstadt gekommen. Saeed trägt Jogginghose und Plastikschlappen. Die Schuhe sind – so schrieb er es auf Facebook – Ausdruck seiner politischen Einstellung: »Die Plastikschlappen meiner Mutter sind schöner als jede Idee und wichtiger als die Allgemeine Frauenvereinigung.« Er lächelt zur Begrüßung ein schelmisches Lächeln und hält die Tür auf. Der klügste Mensch im Facebook gibt sich bescheiden.
22. Mai 2012 um 18:01 Ich kann es nur immer wieder sagen, die Plastikschlappen meiner Mutter sind wichtiger als die Allgemeine Frauenvereinigung, wichtiger als die Bücher von Nawal El Saadawi, wichtiger als Khawla, Tochter des Azwar, wichtiger als Shakiras Hintern, wichtiger als die Frauen, die sich im Namen irgendeines politischen Anliegens nackt fotografieren lassen. Meine Mutter war nie in Tibet, trägt keinen Bikini und weiß nicht, wie man sich auf eine Kloschüssel setzt, meine Mutter, die verlegen wurde und nicht wusste, was sie sagen sollte, als meine Freundin sie fragte: ›Wie geht’s, wie steht’s, Madame?‹ Meine Mutter trägt Plastikschlappen, die wichtiger sind als alle politischen Anliegen des Universums. 215 Likes
Nach seiner Lesereise durch Deutschland im Oktober 2013 entschied sich Saeed zu bleiben. »Es ist sehr gefährlich für mich, nach Syrien zurückzukehren. Nicht nur wegen des syrischen Regimes, auch wegen der Islamisten«, sagt Saeed. Seine Heimatstadt Manbidsch liegt im Nordosten Syriens, nahe der türkischen Grenze in der Provinz Aleppo, die sich in weiten Teilen unter der Kontrolle der islamistischen Al-Nusra-Front und mittlerweile auch der Terrorgruppe »Islamischer Staat« (IS) befinden soll.
Inzwischen ist Saeed berühmt und kann sich vor niemandem mehr verstecken. Über 3.000 Menschen verfolgen, was er auf Facebook schreibt. Schon lange sind es nicht mehr nur syrische Freunde. Saeed ist eine der wichtigsten Stimmen der jungen syrischen Generation weltweit. Seine Mitbewohnerin serviert Tee. Genauso wie er ist sie aus Syrien geflohen. Sie lebt allerdings schon länger in Deutschland, spricht fließend Deutsch und hilft ihm als Dolmetscherin.
Unterstützt haben auch die Übersetzerin Sandra Hetzl und Nikola Richter vom Verlag mikrotext, die seine Lesereise in Deutschland organisiert hatten. Hetzl hatte Saeed auf Facebook entdeckt. Kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs verbrachte sie ein Auslandssemester in Damaskus und übersetzte Statusmeldungen ihrer syrischen Freunde. Da stieß sie auf Aboud Saeed, den gelernten Schlosser, dessen Sprache und Klugheit sie besonders faszinierten.
Das Gefährliche für Saeed sind die Dinge, über die er schreibt. »Da gibt es vieles, was den Islamisten wahrscheinlich nicht gefällt«, sagt er und zeigt wieder sein schelmisches Lächeln. Saeed wirkt nun wie ein kleiner Junge, der sich freut, über Themen der »Erwachsenen« schreiben zu dürfen: Frauen, Sex und Drogen. Er unterbricht das Interview, um bei offenem Fenster in der Küche eine Zigarette zu rauchen. Dazu bietet er Weißwein an. Es ist zwei Uhr nachmittags.
9. Mai 2012 um 9:57 Dem Bürgerkrieg zum Trotz / Heute Morgen werde ich meiner Mutter einreden, sie sei Drusin / An einem anderen Morgen werde ich ihr einreden, sie sei Kurdin / Dann werde ich sie davon überzeugen, dass wir keine Sunniten sind. Dass unsere blöden Vorfahren uns reingelegt haben und dass wir eigentlich Alawiten sind / Und in einer regnerischen Nacht werde ich sie davon überzeugen, dass wir Juden sind. Ich werde ihr sagen: ›Mama, wir sind Gottes auserwähltes Volk!‹ Und eines Tages, wenn ich sie wieder im Rauchen unterrichte, werde ich ihr sagen, sie soll einen tiefen Zug nehmen. ›Mama, zieh es mal richtig tief rein und schluck es runter‹. Und dann werde ich sie davon überzeugen, dass wir Atheisten sind. 263 Likes
Es scheint ein wenig, als wolle Saeed sich als syrischer Freigeist inszenieren, im Gegensatz zu den Islamisten. Ein ZDF-Reporter bezeichnete ihn als »syrischen Bukowski«. Ähnlich wie der US-amerikanische Autor schreibt Saeed in harter, direkter Sprache. Der Krieg, der seit 2011 in Syrien tobt, wirkt auf den ersten Blick beinahe nebensächlich, als verleihe er dem Geschriebenen nur den nötigen zeitgeschichtlichen Touch. »Mein Schreiben hat nichts mit der Revolution zu tun«, sagt Saeed selbst.
Es scheint ihn zu stören, dass sein Werk nur in Verbindung mit dem Bürgerkrieg genannt wird und er als syrischer Autor automatisch in die Kategorie Kriegsreporter eingeordnet wird. Aber natürlich lebt sein Text von den persönlichen Gedanken und Einblicken während des Krieges – auch jetzt im Exil in Deutschland.
23. Juni 2014 um 03:39 Lieber Saeed, (...) bei uns ist alles in Ordnung, es gibt nichts Neues, es ist langweilig. Die Kuh Deiner Tante ist gestorben, sodass es dieses Jahr keinen Käse geben wird. Dein Schrank ist unverändert, aber Mohammed hat alle deine Socken getragen und Löcher hineingemacht. (...) Erinnerst Du Dich an Abu Yassin, den Gemüsehändler? Er hat um die Hand Deiner Schwester Susan angehalten, aber Susan hat sich geweigert und nicht eingewilligt, ihr Ziel ist, dass Du eine Familienzusammenführung organisierst, sie das Kopftuch abnehmen und ihre Haare färben und als Flüchtling nach Deutschland gehen kann. (...) Mama hat dein Foto in einem herzförmigen Rahmen auf den Schrank gestellt und alle Flaggen der Freien Syrischen Armee versteckt (...). Es grüßt Dich Deine Familie (...). 858 Likes
Saeeds Sprache ist drastisch, die Einträge pendeln zwischen ernster Tragik und sarkastischem Witz
Der syrische Bürgerkrieg ist bei Saeed mehr als nur entsetzliche Bühne für alltägliche Themen, wie seine Arbeit und sein Liebesleben. Immer wieder greift er ihn auf, teilweise mit ernster Tragik, teilweise mit sarkastischem Witz. Saeeds Sprache ist drastisch und gleichzeitig aufgeladen mit Ironie. So zitiert er etwa in der Statusmeldung vom 3. Januar 2013 einen Freund, der ihn vorwurfsvoll fragt, wie er nur »Ficken« an seine Facebook-Pinnwand schreiben könne. Saeeds Antwort: »Mein Freund, wenn man nicht einmal ›Ficken‹ auf seine Pinnwand schreiben darf, warum sollte man dann überhaupt das Regime stürzen wollen?«
4. Oktober 2012 um 23:17 Früher, als Grundschüler, hasste ich die Schule. Ich schwänzte den Unterricht oft, ohne dass meine Eltern etwas davon wussten, und immer wenn das Prüfungsdatum näher rückte, wünschte ich mir, ein Wunder möge geschehen. Dass der Unterricht ausfällt oder die Prüfung verschoben wird oder beispielsweise die Schule explodiert Und jetzt blicke ich voller Schadenfreude auf all die zerstörten Schulen. 149 Likes
Wenn es um seine Art zu schreiben geht, wirkt Saeed gleichgültig, gelassen. Er hält nichts von literaturgeschichtlichen Einordnungsversuchen: »Ich mag den Gedanken nicht, eingeordnet zu werden. Ich bin zu offen, als dass ich mich in irgendwelche Kategorien stecken lasse.« Dass er berühmt ist, findet er jedoch gut. Anfangs sei er sogar enttäuscht gewesen, als ihn am Flughafen in Berlin kein Fernsehteam erwartete.
Ein Dichterkollege habe ihm vorausgesagt, dass er in Deutschland von seinem Ruhm leben könne und für jeden Schritt, den er tue, Geld bekommen würde. Nun sitzt er sichtlich ernüchtert in seiner dunklen, kleinen Wohnung. Doch Saeed beweist gerade in schwierigen Situationen Humor und Witz. So versucht er auch jetzt dem Thema den Ernst zu nehmen: »Am meisten stört mich, dass mich fast nur Männer interviewen; und die wenigen Frauen waren zu gut erzogen, schwierig und intelligent. Deshalb hab ich sie nicht rumbekommen.« Er lächelt wieder sein schelmisches Lächeln.
Was ihn an Frauen fasziniere? »Die Hoffnung, sie ins Bett zu kriegen.« Dann wird er wieder ernst und verspottet die Intellektuellen: »Die wohlerzogene, gebildete Gesellschaft ist widerlich. Wir werden erzogen, um unser Leben mit dämlichen Leuten zu verbringen«. Es ist nicht ganz leicht, den klügsten Menschen im Facebook zu durchschauen. Seine Person hinterlässt viele Fragen, und es wirkt beinahe so, als ginge es ihm selbst nicht anders. Gerade in Bezug auf seinen Umgang mit dem anderen Geschlecht wirkt er arrogant und unsicher zugleich.
Manchmal wirkt er wie ein Junge, der sich freut, über Themen der »Erwachsenen« schreiben zu dürfen: Frauen, Sex und Drogen
8. Januar 2012 um 19:33 (...) Ich bin keinen Pfennig wert. Ich habe viele Frauen kennengelernt und mit all jenen geschlafen, die mir die Möglichkeit boten, mit ihnen ein Bett zu teilen. In Beirut habe ich mich einmal an ein asiatisches Mädchen herangemacht, das sehr froh war, meine Bekanntschaft zu machen. Als meine Schwester im Krankenhaus war, habe ich die Krankenschwester kennengelernt, und wir haben Telefonnummern ausgetauscht. Als die Produktvertreterin, die an meinen Arbeitsplatz gekommen war, mir auf Facebook Informationen über Haarschneidemaschinen gab, dachte ich darüber nach, wo wir hingehen könnten. Sogar die Zigeunerinnen haben ihren Teil meiner Lust abbekommen. Doch das Mädchen, das mir gefällt, sehe ich jeden Tag, und versage immer wieder darin, ihr zu sagen, dass sie mir gefällt. (...) 129 Likes
»Der klügste Mensch im Facebook« – das klingt so vermessen wie herausfordernd. Gerade so, als wolle Saeed seine persönliche Revolution über die in Syrien stellen. Jedoch begann der gelernte Schlosser seine eigene Revolution schon früher. Als 2011 die ersten Demonstranten in Syrien auf die Straße gingen, schrieb Saeed bereits seit zwei Jahren. »In mir war so viel soziale Unwissenheit und Leere, aber auch so viel Energie. Facebook ermöglichte es mir, mich auszudrücken.«
Durch den Ausbruch des Bürgerkriegs erzeugten Saeeds Worte ganz neue Assoziationen. Seine Statusmeldungen wirkten plötzlich wie eine Mischung zwischen der Befreiung eines einfachen Schlossers aus seiner eigenen Lebenswelt und dem Rückzug in das innere Exil eines Poeten. Wie bei dem marokkanischen Schriftsteller Mohamed Choukri und seiner Autobiografie »Das nackte Brot« scheint die Kunst der Sprache Saeed ein neues Leben eröffnet zu haben.
Auch wenn er sagt, dass er keinen spezifischen Schriftsteller als Vorbild habe, sieht Saeed durchaus Parallelen zwischen seiner und Choukris Biografie: »Ich war im Gegensatz zu ihm zwar kein Analphabet, aber ich war sehr schlecht in Grammatik und bin es immer noch. In meinen Texten gibt es viele Fehler, aber das stört mich nicht.« Das fehlende Grammatikwissen hindert Saeed nicht daran, an der Gesellschaft Kritik zu üben. Für ihn ist seine Mutter, die Analphabetin in Plastikschlappen, der eigentliche Freigeist.
18. September 2012 um 21:26 Manchmal habe ich die Idee, meiner Mutter ein eigenes Facebook-Profil anzulegen. Doch ich schwanke. Ich habe Angst, dass ihre Seele dadurch verdorben werden könnte oder dass sie womöglich auch noch das Herumtheoretisieren lernt und Ideale bekommt. Also, sage ich mir, soll sie besser so bleiben, wie sie ist: ein Freigeist. Soll sie nur weiter sagen, was ihr in den Sinn kommt, ohne Zensur, ohne dass jemand ankommt und ihr die Rechtschreibfehler und die Grammatik verbessert. Soll sie besser so bleiben, wie sie ist: Sie kann nicht zwischen Schiitentum und Kommunismus unterscheiden und sie muss auch nicht unbedingt erfahren, dass es Lippenstifte gibt, von denen einer über 1.000 Lira kostet. 181 Likes
Das elektronische Element in Aboud Saeeds Werk ist omnipräsent und wird immer wieder reflektiert. Am 16. Januar 2013 etwa schreibt er: »Noch scheußlicher als das Massaker selbst ist diese alberne elektronische Trauer.« Die Möglichkeit, Saeeds Statusmeldungen über den syrischen Bürgerkrieg auf Facebook mit »Gefällt mir« zu markieren, verleiht dem Ganzen eine fast schon dramatische Ironie. Doch liegt die Macht hier nicht in grausamen Bildern getöteter Kinder, sondern allein in der Sprache.
Die Wirkung ist nicht minder radikal. Saeeds Duktus – der Witz, die Ironie, die Intelligenz und das Derbe seiner Sprache – ermöglicht einen radikal persönlichen Einblick in den Alltag im Krieg. Dennoch ist Saeeds Facebook-Literatur keine Dokumentation der Realität. Facebook mache uns alle zu Lügnern, erklärt er selbst. So begründet er übrigens auch den Titel seines Buches, die Statusmeldung, dass er der klügste Mensch im Facebook sei: »Ich spreche damit all die Leute an, die sich in Facebook als diejenigen darstellen, die alles verstehen. Ich sage damit klar und direkt, was alle anderen indirekt von sich behaupten.«
27. Mai 2012 um 19:21 Ich schwöre, wenn da nicht diese Angst vor der Facebook-Einsamkeit wäre, würde ich alle meine Freunde löschen, einen nach dem anderen. 82 Likes
Sein Buch, das als E-Book im Verlag microtext erschienen ist, beginnt mit einer Statusmeldung vom 30. Dezember 2011: »Ich werde alles schreiben, was ich gerade denke / über die Leere / die aus mir einen Pseudo-Dichter gemacht hat.« Die Leere erklärt er mit seiner Herkunft: »Ich bin ein Mensch vom Land, weswegen mein Verstand möglicherweise reiner ist als der von den Leuten, die aus komplizierten Kulturen stammen.
Ich kann die Dinge beim Namen nennen und in klare, direkte Worte fassen.« Saeed hat die syrische Revolution erlebt und sein Land verlassen. Erst Anfang des Jahres starb sein Bruder bei einem Bombenanschlag. Der klügste Mensch im Facebook ist mutig. »Mir gefällt Deutschland, aber das Problem ist, dass ich nicht hierbleiben kann, da ein sehr wichtiger Teil meines Lebens in Syrien stattfindet. Ich warte ständig.
Ich warte darauf, dass mich jemand anruft und mir mitteilt, dass wieder jemand gestorben ist. Es ist sehr hart, mit diesem unsicheren Gefühl, dieser Angst zu leben.« Der klügste Mensch im Facebook ist ängstlich. Auch gegenüber Deutschland, den Leuten und der fremden Sprache wirkt er schwach. Der Mut, den er mit seinem Schreiben beweist, scheint von seinen Worten und der Trostlosigkeit seiner Wohnung verschluckt zu werden. »Schreib, als würdest du in einem menschenleeren Saal Klavier spielen«, schreibt er am 20. Januar 2014 und scheint sich selbst damit Hoffnung machen zu wollen, dass er trotz allem nicht verstummt.
19. September 2012 um 12:01 Panzerhusten. 73 Likes
Der klügste Mensch im Facebook
Statusmeldungen aus Syrien
Aboud Saeed
Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl
Mikrotext Verlag, 2013
250 Seiten, 1,99 Euro