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Tatarstans Hauptstadt Kasan

Das tatarische Modell

Feature

Russlands größter muslimischer Teilrepublik geht es wirtschaftlich gut – dank der Öleinnahmen und weil ein Szenario wie im Kaukasus nach dem Ende der Sowjetunion verhindert wurde. Zu Besuch in Tatarstans Hauptstadt Kasan.

In der Uliza Baumana, der Fußgängerzone im Zentrum von Kasan, herrscht Hochbetrieb. Cafés und Geschäfte sind gut besucht, das Warenangebot unterscheidet sich nicht wesentlich von dem einer westlichen Stadt vergleichbarer Größe. Etwas über 1,1 Millionen Einwohner zählt die Stadt heute, wobei die Bevölkerung hier in fast gleiche Hälften verteilt ist, bestehend aus Russen und Tataren, neben einigen anderen Minderheiten. Aufgrund der Jahrhunderte ethnischer Vermischung können selbst Einheimische oftmals nur schwer erkennen, zu welcher Volksgruppe die vorbei eilenden Passanten zählen.

 

Die autonome Republik Tatarstan, deren Hauptstadt Kasan ist, zählt heute knapp 4 Millionen Einwohner, auf einer Fläche die in etwa der des Bundeslandes Bayern entspricht. Tatarstan genießt innerhalb der russischen Föderation einen vergleichbaren Status wie die überwiegend muslimischen Verwaltungseinheiten des Nordkaukasus, wie Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien. Die Russen machen in ganz Tatarstan noch knapp 40 Prozent der Bevölkerung aus und die tatarischen Nationalisten, die beim Untergang der Sowjetunion auf eine totale staatliche Unabhängigkeit ihrer Republik drängten, haben es nicht auf einen blutigen Konflikt ankommen lassen.

 

Smart haben sich die separatistischen Wortführer von damals auf einen historischen Kompromiss geeinigt, vor allem als Moskau in Tschetschenien einen Rückeroberungsfeldzug startete. Das Grauen einer militärischen Intervention, die Tschetschenien damals in ein Trümmerfeld und Leichenhaus verwandelte, blieb den Bürgern Tatarstans erspart. Stattdessen hat das Erdöl, über welches die Republik in großen Mengen verfügt, beziehungsweise der damit verbundene wirtschaftliche Aufschwung, der Unabhängigkeitsforderung den Wind aus den Segeln genommen.

 

Es ist nicht zu übersehen, Kasan geht es ökonomisch gut, die Stadt zählt inzwischen zu den reichsten Metropolen Russlands. »Ja, die Farbe, an den sanierten Fassaden, ist noch ganz frisch«, erzählt Anatoly Dolgov. Dolgov, ein gebürtiger Kasaner, Jahrgang 1970, hat gerade vor dem »Hotel Tatarstan« eine Gruppe deutschsprachiger Touristen in die Freizeit entlassen, die sich zuvor erstaunt über die ökonomische Dynamik der Stadt zeigten.

 

Der studierte Germanist hat vor Jahren seine Laufbahn an der Universität gegen eine Tätigkeit als Reiseleiter in der Tourismus-Branche getauscht, auch aufgrund der höheren Verdienstmöglichkeiten. »1991 zählte Kasan noch zu den kriminellsten Städte der damaligen Sowjetunion, auf den Straßen herrschte Mord-und Totschlag«, erinnert sich Dolgov. »Und heute wirkt Kasan so sauber, so sicher und so prosperierend wie eine Stadt im Schwabenland«, fügt er schmunzelnd hinzu und lädt zu einem Spaziergang ein.

 

Penthouses und Luxus-Appartements mit Wolga-Blick

 

Kasan liegt heute an der Wolga, früher hingegen nur am Zufluss Kazanka, einige Kilometer vom Wolga-Ufer entfernt. Seit an der Wolga ein Staudamm errichtet wurde und sich von dort ein Rückstau gebildet hat, ist Kasan eine Hafenstadt. Der Blick gleitet über die stahlblauen Fluten des Stroms, an dessen Ufern sich die Wohnviertel der reichen und superreichen Einwohner erstrecken, in Form von pastellfarbenen Villenvierteln, die man eher an der kalifornischen Pazifikküste vermuten würde und die sich architektonisch vorteilhaft von den Geschmacklosigkeiten unterscheiden, mit denen die Oligarchen zu früheren Zeiten ihren Lebensstil zum Ausdruck brachten.

 

Auch auf der anderen Uferseite herrscht eine rege Bautätigkeit, dort entstehen Penthouses und Luxus-Appartements mit Wolga-Blick. In der Ferne ist die neue Sporthalle zu erkennen, die über die größte Außen-Video-Leinwand der Welt verfügt. In den vergangenen Jahren wurden dort 48 Sportanlagen für die »Universiade« – die Olympischen Spiele des Weltverbands des Universitätssports – errichtet, die 2013 in Kasan stattfand. Wendet man den Blick nach Osten, dort wo die Kazanka in die Wolga mündet, erblickt man das alte, das historische Kasan.

 

Der Kreml von Kasan ist schon von weitem sichtbar. Er war einst die Hauptstadt und dass Machtzentrum der muslimischen Tataren gewesen, die für fast drei Jahrhunderte die Herrschaft über die riesigen Weiten Russlands ausübten. Im Jahr 1552 ließ Iwan der Schreckliche, nach mehreren vergeblichen Versuchen, dieses Bollwerk mit Hilfe gewaltiger Mengen von Sprengstoff erstürmen. »Iwan ließ alle Tataren töten, außer denen, die mit ihm kollaborierten. Er wollte die Geschichte der Tataren und des Islams in Russland auslöschen«, erläutert Anatoly Dolgov, der selbst zur russischen Bevölkerungsgruppe gehört.

 

»Das ist ihm nicht gelungen.« Dolgov verweist beim Betreten des Kreml auf die goldenen Zwiebeltürme der christlichen Orthodoxie, auf deren Spitze – wie auch über den Moskauer Kreml – durchbohrt das siegreiche Kreuz den islamischen Halbmond. Der Kreml, dessen Mauer eine Länge von 1,7 Kilometer erreicht, gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Das markante Bauwerk, mit seinen prachtvollen Sakralbauten, ist ein Besuchermagnet für in-und ausländische Touristen.

 

»Die religiöse Rückbesinnung der sunnitischen Tataren hält sich in Grenzen«

 

Heute erhebt sich über den Kasaner Kreml aber eine ganz andere Silhouette. Ohne die Pracht der orthodoxen Gotteshäuer zu beeinträchtigen, erstreckt sich dort heute der massive Neubau der Kul-Scharif-Moschee, welcher 2005 errichtet wurde – der größte Moscheebau Europas. Besonders viele Gläubige trifft man in der Gebetshalle nicht an. Drei junge tatarische Damen bestaunen die hohen Decken, ihr lockeres Kopftuch ist kokett nach hinten verschoben.

 

Der zuständige Imam, der seine theologische Ausbildung in Dubai absolvierte, hält seine Predigt auf Tatarisch. »Die religiöse Rückbesinnung der sunnitischen Tataren hält sich in Grenzen«, bemerkt ein Besucher, »sowohl bei den Christen wie bei den Muslimen, anders als beispielsweise im Kaukasus, wo der Fanatismus der Wahhabiten wuchert, finanziert durch saudische Gelder.« Vor der Moschee plaudert Erkan mit einigen Tataren. Der junge Geschäftsmann aus Istanbul hält sich aus beruflichen Gründen in der Stadt auf und verweist darauf, dass türkische Geschäftsleute in der Stadt sehr aktiv sind.

 

Mit den Tataren kann sich der Türke fließend unterhalten, trotz einer gewissen Russifizierung der tatarischen Sprache im Laufe der Jahrhunderte. Tatarisch und Türkisch gehören beide zu den Turksprachen. Zur Türkei fühlen sich viele Tataren hingezogen, zumal auch viele Besucher – Unternehmer und Kaufleute – über Einfluss verfügen. In Moskau blickt man nicht ganz ohne Sorgen auf die Entwicklung der Muslime in Russland, deren Anzahl weit schneller wächst – mit Ausnahme der europäisierten Bewohner von Kasan – als die der slawisch-christlichen Bewohnern, und schon bei etwa 30 Millionen Menschen liegt.

 

Auch um Wladimir Putin nicht unnötig zu provozieren, hat man sich in Tatarstan mit der Souveränität einer autonomen Republik innerhalb Russlands zufrieden gegeben. Die Einnahmen aus dem Erdöl-Geschäft haben sich inzwischen wohltuend bis auf die ärmsten Bevölkerungsschichten ausgewirkt. »Diese Entwicklung wird Putin von vielen Bürgern hoch angerechnet«, sagt Anatoly Doglov auf dem Weg zurück zum Treffpunkt mit seiner Reisegruppe. »Dabei hat das eher mit der Entwicklung auf dem Weltmarkt zu tun als mit Putins Politik. Was die Zukunft Kasans und Tatarstans angeht, da bin ich eigentlich optimistisch. Denke ich aber an die Beziehungen Russlands zum Westen … nun, wir werden sehen.«


Diese Reise wurde unterstützt von Lernideereisen.

Von: 
Ramon Schack

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