Lesezeit: 7 Minuten
Theaterstück »Hassan Leklichee«

Wir sind alle ein bisschen Hassan

Feature

Modernes Metropolentheater, erzählt im Neuköllner Heimathafen. »Hassan Leklichee« bietet die schmerzvolle Geschichte Hassans und Marokkos dar und endet im Klischee: wahr und authentisch.

Die frischen Krabben aus Marokko und die zahnfeindliche Zuckerwatte, die am Anfang im Publikum verteilt werden, sind lediglich als Appetizer zu sehen. Stroboskop-Effekte, bunter Kunstsand auf dem Boden und ein kreatives Lichtspiel mit Hilfe von Folien und eines alten Lichtprojektors: nur unterhaltsamer Mehrwert. Beim Stück »Hassan Leklichee« vom marokkanischen Autor Jaouad Essounani geht es um den Inhalt.

 

Es geht darum zu verstehen, wie Menschen in Marokko zu dem werden, was sie sind. In einer gleichermaßen wertkonservativen, religiösen, sexualisierten, frustrierten, unterwürfigen, misshandelten, wütenden und abergläubischen Mehrheitsgesellschaft. Der Vater verkauft die Ehre seiner Familie an einen französischen General. Und der General vergewaltigt die Mutter und den kleinen Hassan, immer und immer wieder.

 

Und jeder weiß mittlerweile, dass man so einen Missbrauch sein ganzes Leben lang mit sich trägt, nicht nur auf der Theaterbühne. Hassans Schwester bringt auch Schande über die Familie, weil sie einen »Bauch von der Straße anschleppt«, wie es im marokkanischen Dialekt heißt. Sie wird zur Prostituierten und lässt sich im ehemaligen jüdischen Viertel nieder, dort, wo Marokkaner frei herumhuren können. Parallel zu Hassans Geschichte wird auch die seines Landes erzählt.

 

Die Vorlage dazu sind offizielle Schulbücher, denn was relevante Geschichte ist, bestimmen immer noch die da oben: Altkönig Mohammed V., wie er im madagassischen Exil seinen Sohn Hassan II. auf die Regentschaft vorbereitet; der legendäre »Grüne Marsch«, mit dem die Marokkaner, angeführt vom mittlerweile amtierenden Hassan II., die Sahara befreien und ein Tor bei der Fußballweltmeisterschaft 1986 in Mexiko. Deutschland – Marokko: 1:0.

 

Hassan dreht durch, verrückt, plemplem

 

Mit dieser Niederlage legt der Hauptprotagonist im Stück seinen Joint und all die Frauen nieder und konzentriert sich auf andere Dinge. Bis er Ende der Neunziger Jahre in einem Café landet. Stunden- und tagelang chattet er nun, denn das Internet ist da. Aber der digitale Flirt mit einer Schweizerin bringt nichts. Am Ende führen fünf abgelehnte Visumsanträge über Saudi-Arabien, Afghanistan nach Guantánamo.

 

Denn die Geschichte junger Menschen in Marokko und anderswo ist auch die Geschichte von der Gebrauchsanweisung: Wie mache ich mir meine Feinde selbst. Vielleicht braucht man ein wenig Hintergrundwissen zur marokkanischen Geschichte und Gesellschaft, um die vielen Anspielungen und kritischen Verweise zu verstehen.

 

Dennoch lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Stoff. Geschichte und Landeskunde – über Touristenstrände und Bazars hinaus – kann man durchaus später nachholen.   Am Ende liegt er auf dem Boden, der historische Scherbenhaufen Marokkos, und Hassan dreht durch, verrückt, plemplem.

 

So wie es Tausende in Marokko und anderswo geworden sind und gemacht wurden, so wie Millionen drohen zu werden. Die Veranstaltungsreihe »Lila Risiko Schachmatt« im Heimathafen Neukölln wurde vor dem arabischen Frühling geplant und zeigt im März mit Lyrik, Theaterstücken und Vorträgen Realitäten unter anderem aus Syrien, Palästina und Marokko.


Hassan Leklichee

Teil II der Reihe »Lila Risiko Schackmatt«

Regie: Lydia Ziemke

Mit: Jillian Anthony, Javeh Asefdjah, Nadim Jarrar, Patrick Khatami, Alois Reinhardt

Aufführungstermine: 24. 2., 29. 2., 1. 3., 10. 3. , 18. 3.

Aufführungsort: Heimathafen Neukölln im Saalbau Neukölln, Karl-Marx-Straße 141, Berlin

www.heimathafen-neukoelln.de

 

Von: 
Mohamed Amjahid

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.