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Verbot der Muslimbrüder in Ägypten

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Analyse

Das Verbot der Muslimbrüder in Ägypten stößt in weiten Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung. Doch weder der politischen Integration moderater, noch dem Kampf gegen gewaltbereite Islamisten ist damit gedient.

Die rechtlichen Maßnahmen des ägyptischen Staates gegen die Muslimbrüder haben am 23. September eine neue Stufe erreicht. Ein Gericht verbot die Muslimbrüder und alle aus ihr entstandenen Organisationen und entzog ihr somit den erst im März 2013 erreichten Status als Nichtregierungsorganisation (NGO). Das Verbot schließt auch die aus der Muslimbruderschaft entstandenen »Freiheits- und Gerechtigkeitspartei« ein, die aus den ersten und bisher einzigen freien Parlamentswahlen 2011 noch als stärkste Partei herausgegangen war.

 

Das Verbot ist der nächste diversen rechtlichen Schritte gegen die Muslimbruderschaft nach der Absetzung Muhammad Mursis am 30. Juni. Dazu gehören etwa das Einfrieren sämtlicher Vermögen der Muslimbruderschaft und die Verhaftung des gesamten Führungspersonals wegen »Aufwiegelung zur Gewalt«. Das Urteil wurde in der ägyptischen Bevölkerung allgemein begrüßt – überrascht hat es zumindest niemanden. »Lasst ihr bei euch zu, dass eine terroristische Organisation im Namen der Religion den Staat kapert, sich selbst bedient und den Leuten ihr Weltbild aufzwingen will? Wir müssen uns gegen sie wehren«, sagt mir ein aufgebrachter Taxifahrer, der seinen Arbeitsplatz mit Sisi-Bildern geschmückt hat.

 

Wer Menschenrechtsverletzungen oder Militärtribunale kritisiert, wird durch die laute Propaganda übertönt

 

Die Spaltung in Anhänger und Sympathisanten der Muslimbrüder und in Anhänger von General Sisi spitzt sich immer weiter zu – befeuert von der Propaganda der jeweiligen Medien. Die große Mehrheit schließt sich dem Diskurs des Militärs und des Staates an: Demnach habe das Militär den Staat vor den Terroristen der Muslimbrüder gerettet. Dieser Argumentationsgang erinnert nicht nur inhaltlich stark an die Mubarak-Ära, auch die Rhetorik ähnelt sich verdächtig.

 

Die Gleichsetzung aller Muslimbrüder mit Terroristen, die Vergötterung des Militärs als Retter des Staates, die Notwenigkeit der Bekämpfung dieser Terroristen mit Waffengewalt – im Fernsehen wird das untermalt mit regelmäßigen Werbespots, die Szenen gewalttätiger Muslimbrüder mit dramatischer Musik unterlegt zeigen, oder die »normale« Ägypterinnen und Ägypter im In- und Ausland erklären lassen, dass es sich nicht um einen Militärputsch handelte und sie dem Militär für den Schutz vor den Terroristen danken.

 

Nicht zu vergessen, die auf allen Kanälen geschalteten Banner »Ägypten bekämpft den Terrorismus«. Das heizt die Stimmung weiter an. Bärtige Männer – mit oder ohne Sympathien für die Muslimbrüder – leben derzeit gefährlich, nicht selten werden sie angesprochen, beschimpft oder angegriffen. Diejenigen, die die aktuellen Menschenrechtsverletzungen oder Militärtribunale kritisieren, werden durch die laute Propaganda oft übertönt. Die Aktivistengruppen, die sich gegen das Militär und gegen die Muslimbrüder positionieren, haben ihre führenden Köpfe verloren. Mohamed El Baradei ist von der Bildfläche verschwunden, viele Aktivisten haben sich der einen oder der anderen Seite angeschlossen.

 

Viele Mitglieder der Muslimbruderschaft sind überzeugt, dass sie die gläubigeren, also die besseren Bürger sind

 

Dabei wohnt den Argumenten des Militärs – abseits aller Propaganda – ein durchaus ernsthafter Kern inne. Auch wenn nicht alle Muslimbrüder Terroristen sind, so gibt es unter ihnen doch eine Minderheit, die sich paramilitärisch organisiert und zu Waffengewalt greift. In mehreren Städten und Dörfern wurden Kirchen, christliche Einrichtungen und Christen selbst angegriffen. In der Nähe von Minya im Süden des Landes brannten Kirchen, Klöster und christliche Häuser und Geschäfte nieder.

 

Auf dem Sinai wurden Polizeistationen angegriffen, Waffen entwendet und Angestellte getötet. Und auch jenseits der terroristischen Angriffe ist zu bezweifeln, ob die Muslimbruderschaft demokratiekompatibel ist. Sicherlich hat sie das Potential, sich als politische Partei in ein demokratisches System zu integrieren. Doch gleichzeitig besteht das Prinzip der absoluten Gefolgschaft weiterhin, das eben nicht Diskussion, Meinungsvielfalt und Veränderung zulässt, sondern die Bruderschaft zu einem Staat im Staate macht.

 

Viele Mitglieder der Muslimbruderschaft sind überzeugt, dass sie die gläubigeren, also die besseren Bürger sind. Das Gefühl, aus dem Untergrund gegen die Ungläubigen kämpfen zu müssen, hat seit dem Sturz Mursis enorm an Fahrt gewonnen. Ein Verbot der Muslimbrüder führt sicherlich nicht weiter – ebenso wenig wie Angriffe auf Polizeistationen. Ein Weg, wie moderate Muslimbrüder in das politische System eingebunden und gewalttätige Islamisten zurückgeholt werden können, ist auch weiterhin noch nicht in Sicht.

Von: 
Victoria Tiemeier

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